Fragen und Antworten

 

 

Den historischen Abriss ergänzt der nachfolgende Katalog von ausführenden Darlegungen zu einzelnen Fragen. Er wird im Laufe des Jahres 2010 fortgeführt.

 

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Fragen

 

A. Zum Interieur des Hotels Glacier du Rhône

Was ist auf Bildern des Interieurs zu sehen, die in den Jahren nach 1984 aufgenommen wurden?

 Weshalb befindet sich die Antiquitätensammlung nicht mehr in Gletsch?

B. Soziales

 Wie wurden Mitarbeitende in Gletsch entlöhnt?

 Lassen sich über die Zufriedenheit der Mitarbeiter einigermassen verbindliche Aussagen machen?

Wie wurden das soziale Engagement für die Hotelangestellten und die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der Presse der Region wahrgenommen?

Wie wurden die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der internationalen Presse wahrgenommen?

Gab es in den 1970er Jahren in Gletsch kommunistische Mitarbeitende?

C. Zum Verhältnis zwischen der Hotelsiedlung Gletsch und den Verkehrsmitteln

I. Zur Funktion als Transitstation

 Gibt es frühe Textzeugnisse zur Transitstationsfunktion der Herberge am Fusse des Rhonegletschers?

Gibt es einen neueren Text der Neuen Zürcher Zeitung, in dem  die Hotelsiedlung Gletsch reisekulturgeschichtlich  und hoteltypologisch korrekt eingeordnet wurde?

II. Zum Bau der Furkastrasse

 Weshalb und auf wessen Veranlassung wurde die Furkapassstrasse gebaut?

III. Zur Brig-Furka-Disentis bzw. Furka-Oberalp Bahn

 Welcher Art war der Zusammenhang zwischen dem Kanton, der Famlie Seiler und der Bahngesellschaft?

Was für eine Bedeutung hatte die Bahn für die Hotels beim Rhonegletscher?

Gab es einen Zusammenhang zwischen der Einstellung des Zugbetriebs zwischen Oberwald und Realp im Oktober 1981 und der Aufgabe des Hotelbetriebs in Gletsch im September 1984?

IV. Zur Defunktionalisierung der Hotelsiedlung

Welche Orte kann man sich vergegenwärtigen oder besuchen, um die Defunktionalisierung der Transitstation Gletsch als verkehrshistorisches Phänomen in einem länderübergreifenden Kontext besser zu verstehen?

D. Zu Unternehmensstrategien, -kommunikation und -entwicklungen

 Hermann Seiler stand seit Beginn der 1920er Jahre als Generaldirektor an der Spitze der Zermatter Hotelgesellschaft, die damals sieben (bzw. zeitweise acht) Hotels mit ungefähr 1000 Gastbetten umfasste. Sind für dieses Jahrzehnt distinkte Unternehmensstrategien für die Betriebe in Zermatt und Gletsch auszumachen?

 Im Dezember 1927 lancierte Hermann Seiler die erste Zermatter Wintersaison. Ist die Entscheidfindung im Verwaltungsrat der Seiler Hotels Zermatt AG dokumentiert?

Gab es einen kausalen Zusammenhang zwischen der investorischen Zurückhaltung der Immobilien Gletsch AG im gastgewerblichen Bereich und der Planung eines Stausees?

 Was für Angaben gab es über die Erträge aus den Nebenbetrieben?

Wurde in Gletsch Entwicklung verpasst?

 Welche Optionen gab es für die Gebäulichkeiten in Gletsch nach 1984 im Falle der Nichtverwirklichung des Stauseeprojekts?

Wie haben sich andere Hotels an der Furkapassstrasse seit dem Ersten Welt entwickelt?

 Wie ist die Entwicklung in Gletsch im Verhältnis zu jener der Zermatter Gesellschaft zu sehen?

Wie hat sich das Zermatter Unternehmen seit der Zwischenkriegszeit entwickelt?

 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verkaufte die Familie Eduard Seiler das Hotel und Restaurant Ermitage in Küsnacht. Weshalb?

Welche zusätzlichen Optionen gibt es heute für das Hotel Glacier du Rhône?

E. Biografisches

Welches war das Tätigkeitsfeld von Hermann Seiler, seit den 1920er Jahren Eigentümer der Hotels in Gletsch?

War Hermann Seiler Hotelier?

F. Konfessionelles

Weshalb gibt es in Gletsch zwei Kapellen?

 Weshalb baute der Katholik Joseph Seiler für seine englischen Gäste eine anglikanische Kapelle?

G. Politisches

 Gibt es einen privaten Brieftext, der die politische Position innerhalb der Familie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs prägnant widerspiegelt?

 

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Antworten

 

A. Zum Interieur des Hotels Glacier du Rhône

 

1. Was ist auf Bildern des Interieurs zu sehen, die in den Jahren nach 1984 aufgenommen wurden?

Zur Anmutung des Hotels in der letzten Woche vor der Schliessung im September 1984 aus der Warte eines Journalisten, der während mehrerer Tage Augenzeuge war: „Keine Nachlässigkeit, nicht in der letzten Stunde, Stil war die Qualität des Hauses, Stil im Bau, Stil in der Pflege ...“ (Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 53). Das Haus wurde in der Belle Epoque mit ungefähr 130, in den früheren 1970er Jahren mit rund 80 und in den 1980er Jahren mit 60 Mitarbeitenden geführt (vgl. z.B. Walliser Bote vom 17. September 1984, Nr. 216, S. 12).

Zum Personalbestand bis 1984 gehörte neben Kadermitarbeitenden, die den Anstellungskriterien von Häusern allerersten Ranges genügten und im Winter und in den folgenden Jahren auch oft in solchen arbeiteten, ein fester Handwerkerstab. So mindestens je ein Schreinermeister, Malermeister, Sanitär und Elektriker, denen zusammen mit anderen Mitarbeitenden der ständige Unterhalt des Hauses und dessen Pflege oblag.

Auf Bildern, die nach 1984 entstanden, sind die Innenräume eines Betriebes zu sehen, der unter von Seiten der Käuferschaft ausdrücklich als beabsichtigt erklärter „Abkehr vom Seilerschen Hotelstil“ und Ausrichtung auf einen „Volkstourismus“ (Walliser Bote vom 2. Oktober 1984, Nr. 229, S. 10; entsprechend: Valais demain vom 12. Oktober 1984, Nr. 35, S. 3) mit einem Bruchteil der Zahl von Mitarbeitenden (weniger als zwölf - zeitweise sieben oder acht) geleitet wurde.

Möglicherweise illustrativ für hauswirtschaftliche Aktualität im ‚volkstouristisch‘ und unter „Abkehr vom Seilerschen Hotelstil“ geführten Betrieb im Sommer 1996 die in der Neuen Züricher Zeitung vom 28./29. September 1996 (Nr. 226, S. 79) abgedruckte Fotografie eines (noch?) nicht gemachten Bettes in einem Gästezimmer. [ Ausführlicher Bildkommentar]

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2. Weshalb befindet sich die Antiquitätensammlung nicht mehr in Gletsch?

Die von Joseph, Hermann und Eduard Seiler zusammengetragene Sammlung war seit je privates Eigentum, schmückte aber als Leihgabe die Räume des Hotels. Bereits der Präsident des Alpine Club, welcher in Gletsch über Jahrzehnte Stammgast war und den Nachruf auf Joseph Seiler verfasste (Alpine Journal, November 1929, Nr. 239, S. 400 f.), sah in der Sammeltätigkeit des Verstorbenen dessen persönliches „hobby“. Hermann Seiler brachte die Sammlung 1956 nicht in die damals gebildete Immobilien Gletsch AG ein, die achtundzwanzig Jahre später vom Kanton gekauft wurde. Für den 80jährigen Hotelunternehmer stand zum Zeitpunkt der Konstituierung der Aktiengesellschaft ausser Frage, dass der Hotelbetrieb in der anspruchsvollen Form, welche die gastgeberische Tradition der Belle Epoque fortführte, wegen des betriebswirtschaftlichen und touristischen Wandels langfristig keinesfalls überlebensfähig war (richtig: Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 55).

Die Ausstattung des Hotels mit Antiquitäten des 17. und 18. Jahrhunderts war ein Interieurkonzept, das Joseph Seiler aus Rom und London nach Gletsch übertragen hatte. Es entsprach dem Geschmack seiner teilweise „höchst vornehme[n] internationale[n]“ (Karl Kinzel: Wie reist man in der Schweiz? Schwerin 1913, S. 89) Klientel in der Belle Epoque.

Seit den 1950er Jahren und besonders in den ausgehenden 1960er Jahren wurde der Verbleib der Antiquitäten im Hotel aus verschiedenen Gründen zunehmend prekär:

1. Spätestens seit der ersten Hälfte der 1850er Jahre verbrachte ein sogenannter Winterknecht als Wächter den Winter im Gasthaus in Gletsch [Beleg: Anonymus (An Old bengallee in Switzerland): Notes of a Trip abroad, with details of a six days walk in Switzerland, in May 1866, in: Calcutta Review, Calcutta/London, Nr. XC, 1867 (?), S. 357 ff. (Schilderung eines touristischen Etappenhaltes in Gletsch am 24. Mai 1866 und Bericht über ein Gespräch mit dem ehemaligen neapolitanischen Söldner, der diese Charge während 13 Jahren versah)]. Vor dem Ersten Weltkrieg waren es während der damals ungefähr achtmonatigen Schliessungszeit des Betriebs bis zu anderthalb Dutzend Angestellte, die in der während dieser Zeit sonst unbewohnten Hotelsiedlung blieben.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde es schwieriger, in den 1970er Jahren unmöglich, Personen zu finden, die bereit waren, diese psychisch und physisch anspruchsvolle Wächterfunktion zu übernehmen (vgl. z.B. Walliser Bote vom 2. Februar 1967, Nr. 23, S. 5; Walliser Volksfreund vom 12./13. Mai 1979, Nr. 110. S. 3). Der nächste ganzjährig bewohnte Ort Oberwald ist eine Wegstunde entfernt und winters nur auf Skiern oder im Helikopter erreichbar. Demzufolge waren die Antiquitäten zwischen und unter bis zu fünf Meter hohen Schneedecken monatelang unbewacht.

2. Während der Betriebszeit und kurz nach der Schliessung kam es immer häufiger zu Raubüberfällen und Diebstahl durch Personen, die weder Gäste noch Mitarbeitende waren und mit dieser Absicht nach Gletsch reisten. Den Abtransport von geraubten und gestohlenen Antiquitäten erleichterte der verkehrstechnische Wandel seit den 1960er Jahren (Ausbau der Strassen, Vervielfachung des Privatautoverkehrs). Gotische und barocke Statuen wurden aus der Kapelle neben dem Hotel gestohlen, ebenso überfallmässig Teile des Zinngeschirrs im grossen Speisesaal und historische Waffen aus dem Eingangsbereich vor dem Restaurant. Da die Funktion eines Passantenhotels für den Betrieb vital war, konnte das grosse Gebäude mit betriebsnotwendigerweise vielen Eingängen unter angemessenem Aufwand nicht hinreichend gesichert werden (zum Problemkomplex: Tages Anzeiger vom 25. September 1984, Nr. 223, S. 53).

3. Konstitutiv für die im Rahmen der gehobenen Traditionshotellerie inszenierte Lebenskultur war - wie zu Hofe und bei Festen - die Einhaltung von Verhaltenscodices. Wer ein Hotel betrat, nahm gleichsam Teil an einem aus dem Stegreif kollektiv inszenierten bzw. choreografierten Schauspiel oder Ballett, das auf Verhaltensregeln und ästhetischen Regeln gründete, hinsichtlich deren Respektierung unter den Akteuren - den Gästen, dem Hotelier und den Mitarbeitenden - weitgehend Konsens bestand. (Vgl. z.B. allgemein für die internationale Traditionshotellerie und speziell zu den Ritz Hotels in London und Madrid: Prinz Asfa-Wossen Asserate: Die perfekte Gastlichkeit, in: NZZ am Sonntag vom 26. Dezember 2004, Nr. 52, S. 61; aus englischer Warte zur Gültigkeit viktorianischer Verhaltensregeln beispielsweise im Hotel Riffelalp: London Times vom 23. März 1961, Nr. 55, 037, S. 16; zur Verhaltenskultur in diesem Haus während der Zermatter Generaldirektion Hermann Seilers aus der Sicht eines Angehörigen des jüdischen Grossbürgertums und Intellektuellen: Stefan Zweig u. Friderike Zweig: Unrast der Liebe: ihr Leben und ihre Zeit im Spiegel ihres Briefwechsels, Bern 1981, Briefwechsel vom 9. August 1926 und ff.: „Das Hotel [Riffelalp] ganz mein Genre, sehr englisch, ein paar Basler Patricier, gar keine Deutschen [...] Das einzige, was mich ärgert, ist die Schweizer-englische Sittlichkeit - man kann nirgends sich das Hemd oder auch nur den Kragen ausziehen. So sind wir alle wie Krebse im Gesicht und unter dem Kragen blühweiss, indes es doch gerade wunderbar wäre, Höhensonne in den ganzen Körper zu bekommen. [...] Eigentlich ist es Wahnsinn, überhaupt von hier wegzugehen.“; Illustration: Lunch im Hotel Riffelalp knapp anderthalb Jahrzehnte später, um 1940; zur lebenskulturellen Stilhöhe des Zermatter Sommertourismus im gleichen Jahrzehnt: Neue Zürcher Zeitung vom 4. September 1925, Mittagsausgabe Nr. 1377, Blatt 4, Seite 1: Mit dem Parfüm der nahen Lärchenwälder und der Alpweiden mischt sich der Odem der grossen Welt. Eine Quintessenz von Kultur, Reichtum, Vornehmheit und gepflegter Lebenshaltung wie selten auf so engem Fleck vereinigt. Wenn ich an den etwas grellen Glanz von Gstaad, St. Moritz oder Davos denke, eine Atmosphäre con sordino.“ Zum weltstädtisch anmutenden touristischen Leben in Gletsch während der Belle Epoque: Fritz Bühler: Das Haslital und die neue Grimselstrasse. Eine Fahrt von Meiringen nach Göschenen. Beschreibung, Geschichte und Sagen, Luzern 1895, S. 72 f.: Wenn im Hochsommer die Furka-, die Grimsel- und die Walliser Post hier eintreffen, und dazu die zahlreichen Touristenschwärme zu Pferd und zu Fuss von der Meienwand herniedersteigen, so herrscht hier ein Leben und ein Verkehr wie auf den grossen Boulevards in Paris. Gesichter und Typen aller Nationen wimmeln um dieses Hotel herum und kommen, gehen und drängen sich unaufhörlich, wie in einem Bienenschwarm.“)

Höflichkeit als formalisierte Achtsamkeit und Behutsamkeit im Umgang mit dem Gast, Behutsamkeit des Gastes selbst gegenüber dem ihm Gebotenen, nicht selten allgemein rigide Beachtung ästhetischer und sittlicher Dezenz waren Elemente der Spielregeln, die, in Varianten nach nationaler und sozialer Herkunft und Bildung der Klientel und der Hoteliersfamilie, das Leben in Häusern der anspruchsvollen Traditionshotellerie charakterisierten.

Seit Ende der 1960er Jahre zeichnete sich europaweit mit dem Verblassen der bürgerlichen Kultur förmlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit und der bürgerlichen Repräsentationskultur ein Wandel im Verhalten der Gäste auch distinguiertester Hotels ab. Vgl. Monique Ritz über einige ihrer Gäste im Pariser Ritz: „Ils se conduisent beaucoup plus mal chez nous qu' ils ne le feraient chez eux.“ (Paris Match vom 14. April 1973, Nr. 1249, S. 69.) Laut ergänzendem mündlichem Bericht der vom französischen Wochenmagazin zitierten Schwiegertochter von Cäsar Ritz konnte man sich in jenen Jahren an der Place Vendôme mit vermögenden Gästen konfrontiert sehen, die am Tag ihrer Abreise einen Louis XVI-Nachttisch in seine Teile zerlegt hatten und im Reisegepäck aus dem Hotel zu schmuggeln versuchten.

In der Halle des Glacier du Rhône dienten die Armlehnen von musealen Stühlen des 17. Jahrhunderts aus dem Stockalperpalast wohlhabenden, aber wenig kulturbewussten und rücksichtsvollen Hotelgästen dazu, Zigaretten auszudrücken. Aus einer Schweizer Grossstadt als Gruppe angereiste Warenhausangestellte nutzten die Abwesenheit von Mitarbeitenden des Hotels, um wiederholt am frühen Morgen in der Walliserstube auf dreihundertjährigen Gommer Sakristeitischen - nota bene: ohne sich der Schuhe zu entledigen - Tanzparties zu veranstalten. Ölbilder des 18. Jahrhunderts in den Korridoren wurden mit Kugelschreibern bekritzelt und ebenso bleibend beschädigt. Passanten auf dem Weg zu den Toiletten bedienten sich von Jahr zu Jahr häufiger des mit der Gravur der Firmenenseigne versehenen Hotelsilbers auf den Restauranttischen als ‚Souvenirs‘. (Deshalb mussten die Zugänge zum Grand Restaurant neu in den 1970er Jahren sogleich nach Beendigung des Mittagsservice mit einer Kette versperrt werden.) Originale Kupfer- und Stahlstiche in den Gängen des Hotels und in den Hotelzimmern wurden mit zunehmender Häufigkeit wohl ebenfalls in diesem Sinne mitgenommen.

Dies alles, obschon ein Grossteil der zuletzt noch 60 Mitarbeitenden (Kellner, Portiers, Zimmermädchen) in ihrer Doppelfunktion als Hotelangestellte und Museumswächter instruiert wurde und auch letztere Aufgabe konsequent ausübte. Manche langjährigen Kadermitarbeitenden waren mit dem Interieur affektiv nicht weniger verbunden als die Familie Seiler, was innerbetrieblich einen über die Jahrzehnte hin fest etablierten kunstkonservatorischen Wertekosmos schuf, der die im Umgang mit den Objekten notwendige Sorgfalt seitens der Angestellten zur Folge hatte.

Der Verbleib von Antiquitäten in Räumen hingegen, in denen nicht ständig mindestens ein aufmerksamer Mitarbeitender anwesend war, bildete ein Risiko, das bereits in den 1970er Jahren kaum mehr zu tragen war. Verstärkte museumsähnliche personelle und technische Dispositionen mussten zur unabdingbaren Voraussetzung gemacht werden für die vorläufige weitere Überlassung der unentgeltlichen Leihgaben an den Hotelbetrieb.

Im Jahre 1984 bestand seitens der Käuferschaft kein Konzept für eine Fortführung des Betriebs im tradierten Stil. Intendiert war eine „Abkehr vom Seilerschen Hotelstil“ unter Ausrichtung auf einen „Volkstourismus“ (vgl. oben A. 1.) mit einem Bruchteil der Zahl von Mitarbeitenden (weniger als einem anstatt fünf Dutzend und mit einem Pächter, der im folgenden Jahr die Berufsausbildung abschliessen wollte: vgl. Nouvelliste Valaisan vom 14. Oktober 1985, Nr. 238, S. 1). Ebensowenig bestand ein irgendwie geartetes Museumskonzept für das Interieur (vgl. die Zitierung des Verantwortlichen der Käuferschaft im Walliser Boten vom 2. Oktober 1984, Nr. 229, S. 10: „Kommt Zeit, kommt Rat.“). Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrung war das Schicksal im Hotel verbleibender Antiquitäten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absehbar.

Das Befürchtete trat gemäss Bericht einer Pächterin der 1990er Jahre gegenüber dem Journalisten eines Reisemagazins ein: Sogar Elemente des kunsthandwerklich weniger bedeutenden oder unbedeutenden Mobiliars, welche nicht Teil der privaten Sammlung waren und im Herbst 1984 im Hotel zurückblieben, wurden laut ihr nach der Schliessung oder vor der Öffnung des Hauses - wenn die Strasse befahrbar, das Gebäude jedoch unbewohnt und unbewacht und die zahlreichen Türen und Fenster nicht hinreichend gesichert waren - nicht bloss vereinzelt, sondern „wagenweise [...] gestohlen“ (Berge, November/Dezember 1993, Heft 63, S. 31).

In Anbetracht dieser als fast zwingend voraussehbaren und in der Folge tatsächlich eingetretenen Entwicklung muss der Beschluss von Erben, einen Teil der bedeutenderen Antiquitäten nicht dem Kanton zusammen mit der Immobiliengesellschaft zu verkaufen, sondern als Schenkung mit kunstkonservatorischen Auflagen der Stadtgemeinde Brig zu überlassen, mehr als angemessen scheinen. Auf Vorschlag der Verwaltung des Stockalperpalastes hin wurden die Objekte nicht auf mehrere Räume verteilt, sondern in einem einzigen Raum, der hinreichend Schutz bietet, versammelt. Ebenso gemäss Vorschlag der Verwaltung wurde der Raum zu Ehren des ehemaligen Briger Stadtpräsidenten und Oberwalliser Staatsrats Hermann Seiler als „Seilerzimmer“ bezeichnet (ausführlich zur Schenkung: Walliser Bote vom 12. September 1987, Nr. 211, S. 8). Dem Geehrten gehörte die Sammlung, und ihm ist es zu verdanken, dass das Hotel in Gletsch als Hommage in der von Joseph Seiler etablierten Tradition bis 1984 fortbestand. Der Kontext des Stockalperpalastes ist auch kunsthistorisch adäquat, da es sich um Oberwalliser Kulturgut des 17. und 18. Jahrhunderts aus patrizischem Besitz handelt.

Im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte dürften zu den bereits übereigneten Objekten im Zuge weiterer Schenkungen andere aus dem Eigentum der Familie hinzukommen.

Kunsthistorisches Inventar der Sammlung Dr. Hermann Seiler

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B. Soziales

 

1. Wie wurden Mitarbeitende in Gletsch entlöhnt?

Joseph Seiler machte seine Gäste laut Prospekt der Zeit um 1900 darauf aufmerksam, dass sie den Kutschern seiner Fuhrhalterei ein „regelrechte[s]“ Trinkgeld von 10% des Fahrpreises schuldeten. Für eine fünf- bis sechsstündige Fahrt im Zweispänner beispielsweise von Gletsch nach Brig betrug dieses 6 Fr., nach heutigem Geldwert ungefähr 72 Fr. [Beleg: Tarifliste der Fuhrhalterei Joseph Seilers].

Der Betrag wurde, nach Massgabe der wertmässig vor allem vom Hotelier erbrachten Leistungen (Bereitstellung von Pferden, Wechselpferden und Kutsche für diese Strecke) berechnet, dem Kutscher vom Gast direkt ausgehändigt - oft, wie der Hotelier mit dem Adjektiv „regelrecht[]“ in der Tarifliste nahezulegen versuchte, mit einer erklecklichen Zugabe, die dem Engagement und der Qualität der Leistung Rechnung trug. Der Hotelier kam für Kost und Logis des Mitarbeitenden auf, damals Hauptteil der Lebenshaltungskosten Mitarbeitender im Gastgewerbe.

In der gesamten Schweizer Hotellerie war dies für einen Grossteil des Personals - Kellner, Portiers, Zimmermädchen usw. - jahrzehntelang das übliche Entlöhnungssystem (vgl. z. B. die Wirtschaftszeitung Cash vom 25. Juni 1999, Nr. 25, S. 24: „Seit 1974 gilt in den Schweizer Gaststätten ‚Service inbegriffen‘ - es muss kein Trinkgeld mehr bezahlt werden. Bis dahin erhielt das Servicepersonal Kost und Logis vom Arbeitgeber, das Trinkgeld war der Lohn.“).

Dem obligatorischen Trinkgeld, das vom Gast den Mitarbeitenden geschuldet wurde, plus Zugabe kam vor der Umstellung des Entlöhnungssystems in den 1970er Jahren grosse Bedeutung zu: Im Geschäftsbericht des Schweizer Hoteliervereins des Jahres 1929 (S. 20) konnte festgestellt werden, infolge der Trinkgeldberechtigung im Gastgewerbe seien die betreffenden Frauenberufe in der Schweiz die attraktivsten überhaupt, um derenthalben herrsche in diesem Bereich des Berufszweigs (im Gegensatz zu anderen) kein Personalmangel.

Dass in Gletsch jemand schlechter gestellt gewesen wäre als die Kutscher oder die Entlöhnung der Mitarbeitenden zu irgendeinem Zeitpunkt im Vergleich mit dem im Schweizer Gastgewerbe Üblichen unterdurchschnittlich gewesen wäre, ist höchst unwahrscheinlich. Die Familie Seiler stellte 37 Jahre lang den Zentralpräsidenten des Schweizer Hoteliervereins. (Hermann Seiler selbst war seit 1922 Mitglied des Zentralvorstandes, seit 1925 Vizepräsident, 1927 bis 1945 Zentralpräsident und anschliessend Ehrenpräsident auf Lebzeiten. Zudem war er seit 1932 Ehrenpräsident auf Lebzeiten der Alliance internationale de l’ hôtellerie.) In Entsprechung zur hohen Reputation der Familie im Berufszweig, auf der die kontinuierliche Wiederwahl und Nachfolgewahl durch mehrere Tausend Vereinsmitglieder beruhte, und zur Qualität der gastgewerblichen Leistungen, welche die Art der Klientel widerspiegelte, dürfte die Mitarbeitertreue, die eine angemessene Entlöhnung selbstverständlich zur Voraussetzung hatte, im Schweizer Kontext historisch einen Spitzenplatz einnehmen.

In guten Häusern - und in allen der Familie Seiler - gaben wohlhabende Gäste besonders vor der Systemumstellung zu Beginn der 1970er Jahre dem trinkgeldberechtigten Personal oft ein Vielfaches des regulären Trinkgeldes, in sehr guten entsprechend zu den hohen Erwartungen an die Perfektion der Dienstleistungen nicht selten geradezu exorbitante Beträge.

Drei Beispiele seien aufgeführt: Unter der Generaldirektion Hermann Seilers in Zermatt konnten tüchtige Angestellte des mittleren Kaders wie Oberkellner, Zimmergouvernanten oder Concierges in den 1930er Jahren in den Hotels Riffelalp oder Mont Cervin mit einem durchschnittlichen monatlichen Einkommen von bis zu 1000 Fr. (nach heutigem Geldwert 6000 bis 7000 Fr.) rechnen, im Kontext der oft sehr einfachen bergbäuerlichen Verhältnisse, aus denen die Personen stammten und in die sie nach Saisonende zurückkehrten, ein enormer Betrag. Er erklärt sich daraus, dass die Klientel Trinkgelder in gleicher Höhe zu geben bereit war wie in den besten Häusern in London, Paris oder New York, dass vergleichbare Leistungen erwartet und diesen Erwartungen entsprochen wurde. In den 1970er Jahren beispielsweise bedankte sich eine Opel-Erbin in der Küsnachter Ermitage von Eduard Seiler, dem Verwaltungsratspräsidenten der Immobilien Gletsch AG und Vizepräsidenten sowie Delegierten der Seiler Hotels Zermatt AG, bei der ungefähr zwanzigköpfigen Kellnerbrigade für die in 18 Stunden im Rahmen ihrer Hochzeitsfeier erbrachte Leistung mit einem Trinkgeld von 60'000 Fr., nach heutigem Geldwert ca. 120'000 Fr.; der Betrag wurde dem Chef de service am Nachtag des Festes in Tausendernoten überreicht. Für ein Nachtessen im Kreis von Freunden im gleichen Jahrzehnt zeigte sich der englische Thronfolger gegenüber dem Chefkoch des Hotels Glacier du Rhône mit einem Betrag von 1000 Fr. (inflationsbereinigt heute ungefähr 2000 Fr.) erkenntlich.

Der Hotelier schuf und bot - in mannigfacher Hinsicht - den konstitutiven Rahmen, welcher solche Leistungen und die entsprechenden Trinkgelder überhaupt erst ermöglichte. Die hohe Professionalität und Disponibilität tüchtiger Mitarbeitender in manchen Häusern der anspruchsvollen Schweizer Traditionshotellerie zumal bis in den 1970er Jahren beruhte ohne Zweifel zu einem guten Teil auf den im Verhältnis zu anderen Betrieben und Wirtschaftszweigen aussergewöhnlichen Verdienstmöglichkeiten.

Zu den weitgehend entsprechenden monatlichen Einkommen des mittleren Kaders vor dem Trinkgeld-Systemwechsel in den 1970er Jahren und zum Verhältnis zwischem fixem Salär und multipler Trinkgeldsumme z.B. im oberen Segement der Davoser Berghotellerie: htr hotel revue, Nr. 49, 3. Dezember 2009, S. 15. (Für die 1960er Jahre wird das monatliche Gesamteinkommen inflationsbereinigt im fünfstelligen Bereich angesetzt.)

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2. Lassen sich über die Zufriedenheit der Mitarbeiter einigermassen verbindliche Aussagen machen?

Bester Gradmesser ist die Zahl der Saisons, für die Mitarbeitende sich entschieden, einen neuen Vertrag zu unterschreiben, um im gleichen Betrieb zu arbeiten. Den Rekord hält in den Häusern der Familie Seiler vielleicht eine Walliserin, die 66 Sommersaisons im Hotel Riffelalp tätig war (erwähnt in der Neuen Zürcher Zeitung vom 9. September 1955, Nr. 2357 (36), Blatt 5), die meisten Jahre unter Hermann Seiler als Vizegeneral- und Generaldirektor. Anlässlich des 75jährigen Jubiläums der Zermatter Gesellschaft stellte die Neue Zürcher Zeitung (vom 10. September 1930, Nr. 1746, Blatt 4) heraus, dass 31 der Mitarbeitenden zwanzig Jahre oder länger in den Seiler Hotels arbeiteten.

Signifikant ist die Zahl deshalb, weil im Schweizer Gastgewerbe auch beispielsweise der wirtschaftlich insgesamt schwierigen Zwischenkriegszeit schweizweit meist deutlich mehr offene Stellen angeboten wurden, als Stellensuchende sich meldeten (vgl. z.B. die Statistiken in den Geschäftsberichten des Schweizer Hoteliervereins des Jahres 1931, S. 12 und des Jahres 1938, S. 13), und weil in allen Häusern der Familie Seiler die Mitarbeitenden fast ausschliesslich nicht ortsansässig waren, ihnen demnach mehrheitlich Positionen in hunderten anderer Häuser in der Schweiz als echte Alternativen offen standen.

Nicht erst in der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg - wie man vielleicht gemeinhin annimmt -, sondern bereits damals (und vor dem Ersten Weltkrieg erst recht) war der Beizug ausländischer Mitarbeitender in diesem Wirtschaftszweig unabdingbar: „Bei normalen Zeiten reichte bisher das Angebot von einheimischen Arbeitskräften für die Sommersaison nicht aus, und die Schweizer Hotellerie wird nicht auf ausländische Hilfskräfte verzichten können.“ (Geschäftsbericht des Schweizer Hoteliervereins des Jahres 1931, S. 11 f.)

In den früheren 1970er Jahren waren im Glacier du Rhône rund 80 und im folgenden Jahrzehnt bis 1984 noch fünf Dutzend Mitarbeitende beschäftigt, von denen schätzungsweise 80–90% fünf und mehr Saisons, die qualifiziertesten mehrere Jahrzehnte und einige der besten (wie Simon Kalbermatten, Concierge und Maurermeister, und Germaine Gillioz, Zimmergouvernante der Bel Etage) länger als ein halbes Jahrhundert fast ohne Unterbruch Jahr für Jahr mit einem neuen Vertrag in dieses Hotel zurückzukehren beschlossen - auch in jenen Jahren extremer gastgewerblicher Personalknappheit in der Schweiz, zahlloser valabler Arbeitsplatzalternativen und von anderen Hoteliers und Personalverantwortlichen - nicht selten unter Überschreitung der üblichen Anstandsgrenzen - am Arbeitsplatz selbst vorgebrachter Stellenangebote.

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3. Wie wurden das soziale Engagement für die Hotelangestellten und die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der Presse der Region wahrgenommen?

Der Nouvelliste Valaisan vom 2. Juni 1945, Nr. 126, S. 2 schrieb anlässlich des Rücktritts von Hermann Seiler als Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins: „Il y a près de 20 ans, en effet, que M. le Dr. Hermann Seiler préside aux déstinées de la S. S. H. Sa tâche a été d' autant plus difficile que, depuis 1930, l' hôtellerie suisse traverse une crise aiguë et que la guerre est venue ajouter encore à ses grandes difficultés. Mais l' orientation que M. Seiler a donnée à l' acitivité de la S. S. H., ses compétences techniques et juridiques, son autorité et le crédit dont il jouit auprès des autorités fédérales sont pour beaucoup dans la magnifique résistance dont notre hôtellerie a fait preuve.

On ne saurait non plus, dans les colonnes du Nouvelliste, passer sous silence ses constantes préoccupations sociales et l' intérêt qu'il ne cessa de porter à la cause du personnel.“

Der Walliser Bote hob am 6. September 1955 (Nr. 71, S. 1) anlässlich des Zentenariums der Zermatter Gesellschaft die „vorbildliche soziale Einstellung“ [...] „der Jubilarin“ hervor und hielt fest, die grosse Zahl der für langjährige Mitarbeit Geehrten „ehrt [...] auch die Arbeitgeberin“, bei der „das Personal gut aufgehoben ist und Saison für Saison wieder zurückkehrt“.

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4. Wie wurden die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der internationalen Presse wahrgenommen?

Der Figaro vom 16. September 1930 (Nr. 259, S. 4; 1. Spalte oben) meinte aus Anlass des 75jährigen Firmenjubiläums der Zermatter Hotelgesellschaft unter der Generaldirektion Hermann Seilers: „...la première de ces familles hôtelières, qui constituent de véritables dynasties, où se lèguent, de père en fils, les meilleures traditions de travail, de loyauté et d' honorabilité, et qui ont très simplement résolu la question sociale en faisant de leurs employés des collaborateurs et des amis.“

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5. Gab es in Gletsch in den 1970er Jahren kommunistische Mitarbeitende?

In den 1970er Jahren wählten bis mehr als 1/3 (34, 4% im Jahre 1976) aller wahlberechtigten Italiener kommunistisch. Entsprechend selbstverständlich waren unter den ungefähr 80 Mitarbeitenden in Gletsch manchmal zwei oder drei 17- oder 18jährige italienische Kellnerlehrlinge, die kommunistische Graffiti an die Wände ihres Zimmers kritzelten und vielleicht manchmal mit den Vorgesetzten, die dem Stil und Standard des Hauses entsprechende berufliche Lernbereitschaft und Disziplin erwarteten - wozu der sorgsame Umgang mit Ressourcen und Objekten gehörte -, nicht ganz glücklich waren. Faschisten gab es in Gletsch nach Wissen der Familie Seiler keine, und somit bekritzelten die übrigen 77 oder 78 Mitarbeitenden ihre Zimmerwände wohl eher nicht. (Es wurde angeregt, in der massgeblichen Zeitung des Kantons Wallis im Laufe der nächsten Monate in spiegelbildlicher Restauration gegenreformatorischer Borniertheit eine „Geschichte“ der Stadt Zürich der letzten 140 Jahre zu publizieren, deren sozialgeschichtlicher Erkenntnishorizont sich im Wesentlichen auf zwei oder drei „Zürich zureich“-Graffiti von Akteuren der Chaoten-Bewegung in den frühen 1980er Jahren in einer Ecke des Limmatplatzes und elementarste Unkenntnis der schweizweit üblichen Entlöhnungssysteme beschränkt.)

Die Hotels, die Einzelgesellschaft, zu der diese gehörten, und später die Immobilien Gletsch AG waren seit 1914 faktisch ein ‚akapitalistischer‘ Betrieb, in dem keine nennenswerten Renditen - über Jahrzehnte hin überhaupt keine, symbolische oder ein Sitzungsgeld von 250 Fr. für die Teilnehmer der Generalversammlung (richtig: Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 55) -, wohl aber branchenübliche oder, zumal unter Berücksichtigung des Trinkgeldes, bessere Löhne für mehre Dutzend Angestellte generiert wurden und insofern sozial par excellence. Dies dürfte sich den (Zimmerwände bekritzelnden) italienischen Schulabgängern der 1970er Jahre in den ersten Wochen oder Monaten ihrer Kellnerlehre regelmässig nur sehr teilweise bzw. gar nicht erschlossen haben. (Zur analog ‚akapitalistischen‘ Führung des Zermatter Unternehmens ohne Dividendenausschüttungen als l' art pour l' art: Den Gästen Gutes tun, 150 Jahre Seiler Hotels Zermatt, Zürich 2004, S. 50. Unter der Generaldirektion Hermann Seilers wurden den Mitarbeitenden selbstverständlich immer die üblichen Löhne, den Aktionären seit 1931 infolge der Weltwirtschaftskrise jedoch keine Dividenden ausbezahlt: vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 8. Mai 1942, Nr. 727, Blatt 3.)

Bemerkenswert ist allenfalls, dass es die Hotelleitung des Glacier du Rhône nicht für nötig befand, die Graffiti zu entfernen. Weder in Gletsch noch sonstwo in einem Haus der Familie wurden Mitarbeitende aus Gesinnungsgründen nicht angestellt, schikaniert, fichiert oder vor die Türe gestellt.

Zum engsten Mitarbeiterkreis der Familie gehörte eine Person aus Slowenien mit titoistischem Partisanenhintergrund und Parteibuch, die aufgrund ihrer persönlichen Integrität und fachlichen Kompetenz grösstes Vertrauen genoss. Andernorts in der Schweiz war dies damals anders.

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* * *

 

C. Zum Verhältnis zwischen der Hotelsiedlung Gletsch und den Verkehrsmitteln

 

I. Zur Funktion als Transitstation

 

1. Gibt es frühe Textzeugnisse zur Transitstationsfunktion der Herberge am Fusse des Rhonegletschers?

A. Wäber veröffentlichte unter dem Titel Eine Fussreise vor 60 Jahren im Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, 1892, Jahrg. 27 eine Reisebeschreibung, welche folgende Passage umfasst (S. 182):

„Der immer schöne Rhonegletscher empfing hierauf unsere Huldigung, und eine Karawane berittener Britten beiderlei Geschlechts, welche die Furka hinanzog, stimmte in unsere Gefühle ein. Schon einige Male war unter den Wallisern die Rede davon gewesen, am Fusse der Meyenwand, da, wo jetzt einige elende Ziegenhütten mit Steindächern stehen, ein Wirtshaus für Reisende zu erbauen, welche, von Realp herkommend, das beschwerliche Ersteigen der Meyenwand auf den folgenden Tag zu versparen gedenken und zugleich den vollen Anblick des Rhonegletschers nach Musse geniessen wollen. Es scheint aber, als habe die Misslichkeit einer solchen Unternehmung und die Schwierigkeit, die nötigen Summen aufzubringen, die Ausführung verhindert.“

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2. Gibt es einen neueren Text der Neuen Zürcher Zeitung, in dem  Gletsch reisekulturgeschichtlich und hoteltypologisch korrekt eingeordnet wurde?

Otto Frei, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in der Westschweiz, bezeichnete das Hotel in der Ausgabe vom 4. August 1980 (Nr. 178, S. 9) als „eine der ältesten und ehrwürdigsten Relaisstationen der Alpen.“

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II. Zum Bau der Furkastrasse

 

Weshalb und auf wessen Veranlassung wurde die Furkapassstrasse gebaut?

Der Bau der Strasse erfolgte aus militärischen Gründen, aufgrund der Einsicht im Zusammenhang des Savoyerhandels, dass schnelle Truppenverschiebungen aus dem Mittelland und der Ostschweiz an eine potenzielle Südfront wünschbar waren. Grund war nicht das Hotel in Gletsch. (Ausführlich z.B. Klaus Aerni: Der Bau der Furkastrasse im Wallis 1863-1866, in: Viastoria, 2006, Nr. 2, S. 26 ff.)

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III. Zur Brig-Furka-Disentis bzw. Furka-Oberalp Bahn

 

1. Welcher Art war der Zusammenhang zwischen dem Kanton, der Famlie Seiler und der Bahngesellschaft?

Die Bahn war in der Realisierungsphase im Wesentlichen ein französisches und Westschweizer Projekt. Im zehnköpfigen Verwaltungsrat der Bahngesellschaft sass weder ein Mitglied der Walliser Regierung noch ein Vertreter der Familie Seiler und nur ein Walliser, der Sittener Nationalrat Evéquoz, hingegen neben dem Verwaltungsratspräsidenten Graf d' Ormesson zwei weitere Pariser und der Lausanner Banquier Masson als Investorenvertreter. Mit der Bauleitung betraut war die Pariser Société de Construction des Batignolles, die Aktienmehrheit in französischen Händen (vgl. Ferdinand Kreuzer: Die Geschichte des Landes um die Furka, Visp 1982, S. 20 ff.). Der Kanton und die Familie Seiler waren als Investoren an der Bahn entweder gar nicht oder nur marginal beteiligt.

Zur vehementen Auseinandersetzung der Brüder Alexander und Hermann Seiler mit dem Verwaltungsrat der Visp-Zermatt Bahn (die massgeblich von einem Basler und einem Lausanner Bankhaus finanziert wurde) um die Frage eines Winterbetriebes Wolfgang König: Bahnen und Berge. Verkehrstechnik, Tourismus und Naturschutz in den Schweizer Alpen 1870-1939, Frankfurt 2000, S. 73 ff. und die dort in den Fussnoten genannte Literatur.

Die Verhältnisse im agrarisch geprägten Wallis, wo es frei allozierbares Kapital in grösserem Umfang kaum gab, waren folglich grundlegend verschieden von jenen beispielsweise in Zürich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zur „Mehrfachrolle“ des ‚Eisenbahnbarons‘ Alfred Eschers als Grossrat, Regierungsrat und Nationalrat sowie Bahnunternehmer beim Bau der Nordostbahn ausführlich: Joseph Jung, Alfred Escher. 1819-1882. Der Aufbruch zur modernen Schweiz (Teil 2), Zürich 2006, S. 448 ff. Escher unterschrieb einen Vertrag zwischen dem Kanton Zürich und der Nord-Ostbahn gleich vierfach selbst, als Zürcher Regierungsrat, Direktions- und Verwaltungsratspräsident der Bahngesellschaft und Abgeordneter der Direktion (a.a.O. S. 456 f.). Beim Bau der Gotthardbahn hielten Soldaten und eine Bürgerwehr mit geladenen Gewehren die Arbeiter in Schach (a.a.O. S. 613).

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2. Was für eine Bedeutung hatte die Bahn für die Hotels beim Rhonegletscher?

Die wirtschaftliche, ästhetische und atmosphärische Blütezeit von Gletsch fällt in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Gletsch war in erster Linie „Transitstation im Alpenverkehr“ und „Reisenden-Karawanserei“ (vgl. Walliser Bote vom 20. Juni 1938, Nr. 67, S. 2 f.) sowie Pferdewechselstation im öffentlichen und privaten Pferdekutschenverkehr. Hier erholte sich, speiste und übernachtete der touristisch Reisende vor oder nach einer anstrengenden, meist mehr als fünfstündigen Kutschenfahrt oder Wanderung über einen der beiden oder beide Pässe.

Die Bahn, deren erste Teilstrecke 1914 eingeweiht wurde, verkürzte die Reisezeit von Brig nach Gletsch von fünf bis sechs auf zwei bis drei Stunden. Nach der Fertigstellung der Eisenbahnlinie lag es für die Fahrgäste, welche Richtung Furka unterwegs waren, vorhersehbarerweise nahe, in Gletsch keinen Halt einzulegen, sondern im Bahnwagen, der weitaus komfortabler war als die Kutsche, sitzen zu bleiben und die Fahrt fortzusetzen. (Die Ansicht des Rhonegletschers konnte auch vom fahrenden Zug aus genossen werden.) Joseph Seiler wusste um die vitale Funktion des langsamen Reiserhythmus der Pferdekutschen für seinen Hotelbetrieb und versuchte das Problem im Rahmen des Möglichen in den Griff zu bekommen. Im Gegenzug zur Überlassung von Boden für das Schienentrassee stellte er der Zuggesellschaft die Bedingung, dass der Zug mittags einen einstündigen Halt einlege. Der letzte Kurs sollte abends hier enden. (Vgl. z.B. Eisenbahn Journal, Special Ausgabe Januar 2001, S. 56.)

Nach der Inbetriebnahme der Eisenbahn konnten, wie von Joseph Seiler befürchtet, in Gletsch nicht mehr, sondern weniger Gastbetten angeboten werden: zu Beginn der 1920er Jahre anstatt bis zu 320 (wie vor dem Ersten Weltkrieg) nur 200 bis 250 (vgl. z.B. Blue Guide, Switzerland, hrsg. von Findlay Muirhead, London/Paris 1923), dann weiter abnehmend in den früheren 1930er Jahren etwa 200 (gemäss Schweizer Hotelführer der Jahre 1930 und 1935), Ende der 1930er Jahre noch 150 (laut Schweizer Hotelführer des Jahres 1939).

In den 1930er und 1940er Jahren verbrachten die Fürstin von Liechtenstein und die Herzöge von Braganza und von Bourbon im Hotel Glacier du Rhône regelmässig ihre mehrwöchige Sommerfrische, was deutlich macht, dass der Nachfragerückgang nicht auf eine mindere Qualität des Gebotenen zurückzuführen ist.

Die Bedeutung der Bahn für Gletsch war wegen der Transitstationsfunktion der Hotelsiedlung, die mit der Zunahme der Verkehrsgeschwindigkeit sukzessive geschwächt wurde, invers zu jener der Visp-Zermatt Bahn für die Destination Zermatt, wo die 1891 eröffnete Bahnverbindung die Zahl der angebotenen Gästebetten stark erhöhte. (Richtig: Paul Budry und Werner Kämpfen: Kleines Zermatter Brevier, Brig und Lausanne 1941, S. 85.) Zudem wurde hier, anders als in Zermatt, die Bahn seit den 1920er Jahren durch den motorisierten Strassenverkehr konkurrenziert

Der Verwaltungsrat der Immobilien Gletsch AG schätzte die Bedeutung des Furka-Basistunnels für die „wintersportlichen Chancen“ und damit die „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ des Goms bis Oberwald vorausschauend als gross und die Auswirkung auf die Gästefrequenz in Gletsch als gering ein, weshalb dessen Präsident öffentlich mit Nachdruck für die Verwirklichung des Bauvorhabens eintrat (so z.B. im Walliser Boten vom 15. Juli 1963, Nr. 80, S. 1 f.).

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3. Gab es einen Zusammenhang zwischen der Einstellung des Zugverkehrs zwischen Oberwald und Realp im Oktober 1981 und der Aufgabe des Hotelbetriebs in Gletsch im Jahre 1984?

Die Gründe für die Aufgabe des Hotelbetriebs waren folgende (Reihenfolge nach Gewicht):

1. Die lage- und witterungsbedingte Beschränkung der Betriebszeit eines anspruchsvollen Hotels auf dreieinhalb Sommermonate lässt eine rentable Betriebsführung nach allgemeinen hotelbetriebswirtschaftlichen Erkenntnissen je länger desto weniger zu.

Die kurze Betriebszeit erlaubt es grundsätzlich nicht, die langfristig notwendige Investitionskraft zu generieren. Insbesondere ist daran zu erinnern, dass Fremdkapital selbstverständlich auch ausserhalb der Betriebszeit zu verzinsen ist, was eine Multiplikation der Fremdkapitalkosten zur Folge hat, die in der auf einen Jahresbruchteil verkürzten jährlichen Wertschöpfungsphase zu erwirtschaften sind; analog ist die Amortisationsdauer für jegliche Investitionen vermehrfacht.

2. Gletsch war seiner Funktion nach in der Hauptsache „Transitstation im Alpenverkehr“ und „Reisenden-Karawanserei“ des langsamen, beschwerlichen und teuren Pferdekutschen-Passverkehrs (vgl. C. III. 2.). Synchron ist das Hotel der Gründerzeit und Belle Epoque in den Kontext der Postgasthöfe und Pferdewechselstationen - im englischen Kulturkreis: Coaching houses, im französischen: Relais - einzuordnen. Diachron steht die Hotelsiedlung in der Tradition der Hospize und Susten, die in den Alpen den Passwanderern und Säumerkarawanen Halbtages- oder Tages-Etappenziel waren. Die Vervielfachung der Reisegeschwindigkeit auf den Bergstrassen mit einem Faktor 5-8 in sechs Jahrzehnten liess diese Funktion weitgehend obsolet werden.

Elf bis zwölf Stunden fährt man heute nicht von Göschenen nach Brig, sondern von ersterem Ort auf den Autobahnen beispielsweise nach Brindisi am Südende des italienischen Stiefels oder - über Gletsch - nach Barcelona an der Ostküste der iberischen Halbinsel. Vergleichbar verschieden ist der gastgewerbliche Erwartungs- und Bedürfnishorizont des Gastes, insofern er an der Transitstation Gletsch wesentlich durch Verkehrsmittel, Fahrzeit und -komfort bestimmt wurde.

3. Der Rückzug des Gletschers mindert die landschaftliche Attraktivität des Ortes.

4. Durch den Ausbau der Strassen hat auch der landschaftliche Reiz des Talkessels von Gletsch abgenommen.

5. Ideell sind die landschaftlichen Veränderungen im Schweizer Alpenraum verbunden mit dem Verblassen des hallerschen, rousseauschen, romantischen und viktorianischen reisekulturgeschichtlichen Topos der Schweizerfahrt oder Swiss tourbei teilweise sehr anspruchsvollen Gästen.

6. Die Verhundert- bis Verzweihundertfachung des Durchgangsverkehrs unmittelbar vor dem Hotel beeinträchtigt den Genusswert eines Aufenthalts erheblich, zumal wegen der Abgase und des Motorenlärms.

Mit der Einstellung des Zugverkehrs auf der Bergstrecke, die über Gletsch führt, hat die Aufgabe des Hotelbetriebs sehr wenig bis nichts zu tun. In den 1980er Jahren reisten schätzungsweise 95% der Gäste mit dem privaten Automobil, Reisebus oder Postauto an, nur noch 5% mit dem Zug; von diesen 5% benutzte nach dem Ende des Zugbetriebs die Mehrheit andere Verkehrsmittel, um nach Gletsch zu gelangen.

Das Ende des Eisenbahnverkehrs brachte vor allem logistische Probleme des Personal- und Warentransports mit sich, die ohne grossen Aufwand zu bewältigen waren. Auf die Gästefrequenz wirkte es sich, wie dies der Verwaltungsrat der Immobilien Gletsch AG bereits zwei Jahrzehnte vor der Einstellung des Verkehrs vorhergesehen hatte (vg. oben C. III. 2.), kaum aus.

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IV. Zur Defunktionalisierung der Hotelsiedlung

 

Welche Orte kann man sich vergegenwärtigen oder besuchen, um die Defunktionalisierung der Transitstation Gletsch als verkehrshistorisches Phänomen in einem länderübergreifenden Kontext besser zu verstehen?

Beispielsweise das Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard (Transitstation der Passwanderer), den Hof des Stockalperpalastes in Brig (T. der Maultierkarawanen), die Karawansereien des 17. und 18. Jahrhunderts in der Altstadt von Kairo (T. der Kamelkarawanen), den alten Hafen von Valetta (Grand Harbour) auf Malta (T. der Galeeren, Segel- und Dampfschiffe), den Hafen von Mindelo auf der Kapverdischen Insel São Vicente (T. der Dampfschiffe).

Die Hotelsiedlung Gletsch war seit den 1860er Jahren in erster Linie eine Transitstation des alpinen Kutschenverkehrs. Die vergleichshalber genannten Transitstationen verdeutlichen den engen Zusammenhang zwischen verkehrstechnischem Wandel und Schicksal der Transitstationen.

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D. Zu Unternehmensstrategien, -kommunikation und -entwicklungen

 

1. Hermann Seiler stand seit Beginn der 1920er Jahre als Generaldirektor an der Spitze der Zermatter Hotelgesellschaft, die in der Zwischenkriegszeit sieben (bzw. zeitweise acht) Hotels mit insgesamt ungefähr 1000 Gastbetten umfasste. Sind für dieses Jahrzehnt distinkte Unternehmensstrategien für die Betriebe in Zermatt und Gletsch auszumachen?

Die Tätigkeit in Zermatt war vornehmlich von drei Zielen bestimmt: Sanierung des durch den Weltkrieg stark mitgenommenen Unternehmens, möglichst weitgehende Erneuerung der baulichen Substanz in der kurzen konjunkturellen Aufhellung zwischen 1925 und 1931, Lancierung und Etablierung der Wintersaison (vgl. unten D. 2.).

Da bereits damals in Gletsch die Amortisation umfangreicher baulicher Erneuerungen im Hotel wie des Einbaus einer grossen Zahl von Badezimmern in Anbetracht der strikten Beschränkung des Betriebs auf eine kurze Sommersaison auf der Grundlage präziser betriebswirtschaftlicher Berechnungen als prekär erkannt wurde, gab Hermann Seiler Ende der 1920er Jahre an diesem Ort mit der elektrizitätswirtschaftlichen Nutzung des Sidel- und Maienbachs und später der des Totensees der nichtgastgewerblichen Mise en valeur den Vorrang.

So schuf der Finanzmann nach dem Ende des ‚Goldenen Zeitalters‘ der Schweizer Hotellerie auf der Grundlage der vorhandenen immobiliaren Ressourcen eine nachhaltige zwölfmonatige Umwegrentabilität, welche den Fortbestand des auf eine dreieinhalb- bis viermonatige jährliche Wertschöpfungsphase beschränkten Hotelbetriebes in der tradierten anspruchsvollen Art der Belle Epoque bis in die 1980er Jahre wesentlich mitermöglichte, indem die zusätzlich generierten finanziellen Mittel in diesen einflossen (richtig: Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 55).

Die Erträge aus den Nebenbetrieben dienten der Fortführung der gastgewerblichen Betriebe und damit in erster Linie der branchenüblichen (und besseren) Entlöhnung Mitarbeitender - zumal solcher, die nicht zum sogenannten trinkgeldberechtigten Personal gehörten.

Die Subventionierung des strukturbedingt renditeschwachen gastgewerblichen Kerngeschäfts durch renditestärkere nichtgastgewerbliche Nebenbetriebe gilt heute im Schweizer Gastgewerbe als in hohem Masse wünschbares Geschäftsmodell (vgl. z.B. Handelszeitung vom 6. bis 12. Juni 2007, Nr. 23, S. 12; Thomas Allemann, Leiter Wirtschaftspolitik bei Hotelleriesuisse, in: Immobilienmagazin Bilanz Homes vom 9. November 2007 bis 6. März 2008, Nr. 4, S. 18 über die zunehmende Bedeutung der Umwegrentabilität und ‚hybrider‘ Hotels). Auch insofern leistete Hermann Seiler hotelunternehmerische Pionierarbeit.

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2. Im Dezember 1927 lancierte Hermann Seiler die erste Zermatter Wintersaison. [ Ausführliche Darstellung] Ist die Entscheidfindung und Beschlussfassung im Verwaltungsrat der Seiler Hotels Zermatt AG dokumentiert?

Franz Seiler, promovierter Jurist, 1921-1925 Grossrat, 1926-1946 Direktor der Schweizerischen Hotel-Treuhand-Gesellschaft, 1921-1938 Mitglied des Verwaltungsrates der Zermatter Hotelgesellschaft, 1943-1966 Nachfolger seines Onkels Hermann an deren Spitze wie auch 1945-1965 als Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins, schrieb im Nachruf vom 29. August 1964:

„Doch kamen [Hermann Seiler] nun [nachdem er 1920 auf sein Regierungsamt verzichtet und die Nachfolge seines Bruders Alexander als Generaldirektor der Zermatter Hotelgesellschaft angetreten hatte] seine von tiefer Verstandes- und Charakterbildung getragenen Fähigkeiten als Organisator und Administrator auch in der obersten Leitung unseres privatwirtschaftlichen Unternehmens in hohem Masse zustatten. Mit eiserner, zäher Energie und mit bewundernswerter Schaffenskraft steuerte er die Seiler Hotels durch die Klippen der in den Jahren 1920-24 abflauenden Nachkriegskrise in die anschliessende Konjunkturhausse der Jahre 1925-31, einer Periode des Aufschwungs, die es ihm ermöglichte, nachzuholende Erneuerungen und Modernisierungen in verschiedenen Hotels so weit als möglich durchzuführen - man denke nur an die Einrichtung des fliessenden Wassers - und darüber hinaus im Jahre 1927 seine Lieblingsidee zu verwirklichen, nämlich die Eröffnung der ersten Wintersaison in Zermatt.

[D]as Risiko der winterlichen Ersteröffnung unserer Hotels Victoria und Mont Cervin sowie des damals noch zum Komplex der Seiler Hotels gehörenden Hotels Beau-Site [...] war umso grösser, als zu jener Zeit hinsichtlich der Organisation eines geordneten Wintersports das meiste geradezu improvisiert werden musste. Die bedeutenden Opfer, die mit dieser Pionierleistung des Verstorbenen verbunden waren, hätten sich zweifelsohne schon bald gelohnt, wäre nicht im Jahre 1931 eine neue, schwere und nicht enden wollende Weltwirtschaftskrise hereingebrochen, gefolgt vom 2. Weltkrieg mit seinen katastrophalen Auswirkungen.

Infolgedessen konnte die Frucht der kühnen Tat von Dr. Hermann Seiler, der sich in seiner Initiative auf die einmütige Zustimmung des damaligen Verwaltungsrates stützen konnte, erst viel später aufgehen, dann aber allerdings, wie die Entwicklung seit einigen Jahren zeigt, in ungeahnter Fülle.

Er war es gewesen, der den Bann gebrochen und damit den Weg zur Entfaltung der unvergleichlichen Möglichkeiten, die Zermatt im Winter bietet, gewiesen hatte, zusammen mit einigen treuen Zermatter Freunden, unter denen hier nur der unvergessliche Bergführer und internationale Skimeister Otto Furrer genannt sei. Für seine bahnbrechende Tat schuldet Zermatt Dr. Hermann Seiler bleibenden Dank.“

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3. Gab es einen kausalen Zusammenhang zwischen der investorischen Zurückhaltung der Immobilien Gletsch AG im gastgewerblichen Bereich und der Planung eines Stausees?

Die investorische Zurückhaltung stand in einem Kausalzusammenhang mit den unter C. III. 3. genannten Gründen 1.-6. (vgl. die Zitierung der Geschäftsführerin in der Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 55: „Geben Sie uns eine Wintersaison [...], dann machen wir weiter.“). In den 1960er Jahren erwies es sich nach dem Neubau des Speisesaals des Hotels Belvédère schliesslich auch empirisch sehr deutlich, dass etwas umfangreichere Investitionen in der kurzen Sommersaison und angesichts des touristischen Wandels kaum zu amortisieren waren.

Vgl. Werner Kämpfen, Direktor der Schweizerischen Verkehrszentrale (Schweiz Tourismus) in Zürich von 1960 bis 1979, Leiter des Touristikkomitees der OECD und später Verwaltungsratspräsident der Schweizerischen PTT, im Zusammenhang der Lancierung des Zermatter Sportwinters durch Hermann Seiler im Dezember 1927: „Nach den schweren Krisenjahren [während und nach dem Ersten Weltkrieg], die den Tourismus und die Hotellerie lahmlegten, war für Dr. Hermann Seiler, später ebenfalls [wie sein Bruder Alexander] Nationalrat und [zudem 17 Jahre lang] Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins, aber auch für seinen nationalökonomisch geschulten Sohn Edi [Eduard] eines klar [sic!]: in Zukunft konnte unsere Hotellerie nicht bloss von zwei [bis vier] Monaten leben, die Ergänzung durch eine Wintersaison drängte sich wirtschaftlich [...] auf.“ (Walliser Bote vom 3. August 1976, Nr. 178, S. 3.) Vgl. *] .

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4. Was für Angaben gab es über die Erträge aus den Nebenbetrieben?

Otto Frei, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in der Westschweiz und in Gletsch häufig zu Gast, schrieb am 31. August 1978 (Nr. 201, S. 30) in der gleichen Zeitung zutreffend: „So imponierend er [der Besitz] von der Fläche her anmutet, so wenig wirft er wirtschaftlich ab, handelt es sich doch um nichtkultivierbaren [kursiv hervorgehoben durch die Zeitung] Grund.“

Ferdinand Kreuzer, zwei Jahrzehnte Professor für Physiologie an der Universität Nijmegen, formulierte in seinem Standardwerk über das Goms (Geschichte des Landes um die Furka, Kleve 1982, S. 99): „Der grösste Teil des Besitzes der Familie Seiler ist unproduktives Land“.

Beide Sätze beruhten auf seinerzeit gemachten Darlegungen von Mitgliedern der Familie Seiler und waren vollkommen korrekt.

Im Walliser Boten vom 5. Juni 1984 (Nr. 130, S. 6) ist eine Zusammenfassung des vom Finanzdepartement aus Anlass der parlamentarischen Beratung des Kaufgeschäfts erstellten Inventars publiziert. Dem ist unseres Wissens nichts beizufügen.

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5. Wurde in Gletsch Entwicklung verpasst?

In Gletsch wurde mit Sicherheit nicht Entwicklung verpasst. Die negativen Gründe sind die selben wie jene für die Betriebsaufgabe (vgl. oben C. III. 3.), zumal es sich um extrinsische handelt. Mit der Lancierung der Wintersaison in Zermatt im Jahre 1927 durch Hermann Seiler (vgl. oben D. 2.), deren fortschreitender Etablierung bis zum Zweiten Weltkrieg, dem Aufbau von Unternehmen in Bern seit Beginn der 1940er Jahre und in Küsnacht am Zürichsee seit 1949 (zur Qualität des dort im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts Gebotenen z.B. Fielding's Travel Guide to Europe, New York 1956/7, S. 763: „In Zurich, top honors go to Seiler's Ermitage — one of the 2 greatest restaurants of Switzerland. Lovely lakeside country-house situation at Kusnacht-Zurich ...“ und Neue Zürcher Zeitung vom 9. November 1971, Nr. 522, S. 24: „Nach einem Besuch im Ermitage wird man kaum zurückhaltend sein im Lob ...“), der massgeblichen Beteiligung von Eduard Seiler als Vizepräsident und Verwaltungsratsdelegiertem an den Planungs- und Erneuerungsarbeiten der Zermatter Gesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren (vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung vom 1./2. Februar 1975, Nr. 26, S. 34) wurde dort hotelunternehmerisch entwickelt, wo nach dem Ersten Weltkrieg Kapitalallokation sinnvoll war, an Orten ohne in absehbarer Zeit nicht zu durchbrechende Beschränkung auf eine dreieinhalb- bis viermonatige gastgewerbliche Wertschöpfungsphase und ohne sukzessive verkehrstechnisch, natürlich und reisekulturell bedingte touristische Defunktionalisierung.

Die struktur- und lagebedingte Renditeschwäche eines Geschäftsmodells und Betriebes frühzeitig zu erkennen und nicht da zu investieren, sondern in auf der Grundlage von Elementen dieses Geschäftsmodells neu aufgebaute oder weiterentwickelte renditestärkere Betriebe ist ein Grundsatz unternehmerischen Handelns. Vgl. zur allgemeinen Auffassung unternehmerischer Tätigkeit (und zu deren notwendiger Fortschrittsorientiertheit) aus der Sicht der Familie Seiler z.B. die mit Blick auf die Nachkriegszeit verfasste Gesamtschau der Schweizer Wirtschaft von Eduard Seiler: Das Schweizervolk und seine Wirtschaft (unter Mitwirkung von Gustav Erhard, Marcel Gauchat, Luzius Simon und Max Zahner), Zürich 1944.

Die Annahme, in Gletsch sei Entwicklung verpasst worden, ist ähnlich geistvoll, wie es ein an die Familie Stockalper gerichteter Vorwurf wäre, dass der Hof des Stockalperpalastes in Brig im Jahre 2009 nicht mehr wie im 17. Jahrhundert Maultierkarawanen, welche den italienisch-französischen Warenverkehr über den Simplon besorgen, pittoresk als Umschlagplatz diene, oder die Forderung, der Palasthof müsste mindestens, in Fortbildung seiner ursprünglichen Funktion, als nächtlicher Parkplatz des internationalen Lastkraftwagenverkehrs benutzt werden.

Die Hotelsiedlung Gletsch ist heute infolge dessen, was allgemein als Fortschritt bezeichnet wird, im Wesentlichen eine denkmalschützerische Problemstellung und auch insofern (ausser hinsichtlich der Transitstationsfunktion des Gebäudekomplexes und der Lage am Fusse der Pässe) mit dem ebenfalls durch den verkehrstechnischen Wandel defunktionalisierten Stockalperpalast vergleichbar.

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6. Welche Optionen gab es für die Gebäulichkeiten in Gletsch nach 1984 im Falle der Nichtverwirklichung des Stauseeprojekts?

Unter den Aktionären und im Verwaltungsrat wurden folgende Optionen diskutiert: 1. Umgestaltung des Haupthauses zu einem Haus für Naturfreunde; 2. Nutzung als Museum (naturkundlicher und/oder touristischer Art), kombiniert mit einem einfachen gastronomischen Betrieb; 3. Abbruch des Gebäudekomplexes durch das Militär als Übungsobjekt.

Wäre das Stauseeprojekt verwirklicht worden, hätte sich die Wahl einer der genannten Möglichkeiten erübrigt. Der Entscheid für eine der Alternativen war auch aufgrund denkmalschützerischer Güterabwägung zu treffen - aber im Bewusstsein, dass Denkmalschutz defunktionalisierter Objekte notwendig seinen Preis hat.

Die Option, unter erheblichem finanziellem Aufwand an den Betrieb anzuknüpfen, wie er bis 1984 bestand, beurteilte man wegen des mannigfachen und irreversiblen Wandels seit der Belle Epoque (vgl. oben C. III. 3.) als wenig erfolgversprechend. Die auf Analyse und Empirie beruhende Einschätzung, grosse Investitionen könnten nicht verzinst geschweige denn amortisiert werden, widerlegte der Gang der Dinge nicht.

Anschlussfrage D. 11.

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7. Wie haben sich andere Hotels an der Furkapassstrasse seit dem Ersten Weltkrieg entwickelt?

Der hotelbetriebswirtschaftliche Wandel, die Motorisierung des Verkehrsmittels und die Vervielfachung der Reisegeschwindigkeit, die zunehmende Beeinträchtigung der Landschaft durch den Ausbau der Strassen, das damit einhergehende Verblassen des reisekulturgeschichtlichen Topos der Swiss tour oder Schweizerfahrt zu Gunsten eines Tourismus der attraktivsten Destinationen, die im Verhältnis zum Wintertourismus abnehmende Bedeutung des Schweizer Sommertourismus vor dem Hintergrund der steten Zunahme von gut erschlossenen Sommerreisezielen ausserhalb der Schweiz schlugen sich auch im Schicksal der beiden Passhotels de la Furca und des benachbarten Furkablick nieder: dieses wurde 1982 vom Militär abgerissen, jenes konnte bis in die 1980er Jahre als Gastbetrieb fortbestehen. 1986 kaufte es ein Neuenburger Galerist, dessen eher künstlerisches als gastgewerbliches Projekt ‚FurkArt‘ jedoch nach der Jahrtausendwende als erlahmt galt (vgl. Roland Flückiger: Hotels am Rhonegletscher – Hotelträume und Hotelpaläste der Belle Époque, in: Die Alpen, Zeitschrift des Schweizer Alpen-Clubs, 2003, Nr. 12, S. 48 ff.).

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8. Wie ist die Entwicklung in Gletsch im Verhältnis zu jener der Zermatter Gesellschaft zu sehen?

Das Zermatter Schwesterunternehmen leitete in der ersten Hälfte der 1980er Jahre eine entgegengesetzte gastgewerbliche Expansionsbewegung ein. Bei Sitten wurde ein Restaurant und bei Martigny ein Hotel mit Restaurants lanciert. Diesen Betrieben war kein durchschlagender Erfolg beschieden (vgl. Roberto Seiler, Präsident der Seiler Hotels Zermatt AG, in: Den Gästen Gutes tun, 150 Jahre Seiler Hotels Zermatt, Zürich 2004, S. 49). Um die Jahrtausendwende beschloss der Verwaltungsrat die Betriebsaufgabe, es erfolgte eine Konzentration auf die immobiliare Mise en valeur in Zermatt.

In den 1990er Jahren konnte nach einer Planungszeit, die bis in die 1960er und 1970er Jahre zurückreicht, mit hauptsächlicher Beteiligung der Sandoz Stiftung ein neues Hotel auf der Riffelalp verwirklicht werden. Die Seiler Hotels AG brachte im Wesentlichen das Grundstück in die neue Gesellschaft ein und war in der Folge Minderheitsaktionärin. Die Liquidation der minoritären Beteiligung erlaubte die grossen Erneuerungsarbeiten im Hotel Mont Cervin aus Anlass des 150jährigen Jubiläums.

Im Jahre 2005 erfolgte mit dem Übergang von 36% des Aktienkapitals der Seiler Hotels AG an die Jelmoli Holding AG ein weiterer Schritt hin zu einer nichtgastgewerblichen immobiliaren Ausrichtung, welche die Aufgabe der eigenständigen Betriebsführung im Hotel Nicoletta im folgenden Jahr ergänzte. Bis im November 2007 erhöhte sich dieser Anteil auf mehr als 80%.

Bereits zu Beginn der 1960er Jahre wurden nach der Zerstörung des Hotels Riffelalp durch einen Brand die Vergütungen der Versicherung nicht auf den sofortigen Wiederaufbau dieses Hotels, sondern auf die Substanzerneuerung der anderen Häuser, zumal des Mont Cervin, verwendet. Ende der 1960er Jahre diente der Verkauf der Liegenschaft des Hotels Victoria gegenüber dem Bahnhof, die seitdem grösstenteils nichtgastgewerblich genutzt wird, dringenden Modernisierungen im Monte Rosa und dem Bau des ersten Hotelhallenbades.

Die in Gletsch in den 1920er Jahren mit der elektrizitätswirtschaftlichen Nutzung des Maien- und Sidelbaches und später des Totensees eingeleitete nichtgastgewerbliche Mise en valeur des vor dem Ersten Weltkrieg von der Hotelgesellschaft erworbenen Immobilienbestandes wurde so schrittweise nachvollzogen - mit einer Verzögerung von rund drei Jahrzehnten, die sich hauptsächlich der Möglichkeit einer Wintersaison in Zermatt verdankt (vgl. im historischen Abriss das Kapitel ‚Hotelunternehmerische Problemstellung‘ C.) .

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9. Wie hat sich das Zermatter Unternehmen seit der Zwischenkriegszeit entwickelt?

Unter der Generaldirektion Hermann Seilers in den 1920er und 1930er Jahren konnten mit über 1000 Hotelbetten in den sieben bzw. acht Häusern Monte Rosa (120 - 150 Betten), Mont Cervin (230 - 300 B.), Riffelalp (240 - 300 B.), Victoria (180 - 200 B.), Schwarzsee (30 B.), de la Gare (30 B.), Beau Site (120 - 150 B.) und (zeitweise, als Dependance des Hotels Monte Rosa) des Alpes (70 B.) bei einem Angebot von in Zermatt und Umgebung gesamthaft knapp 1800 vom Hotelierverein homologierten Gastbetten mehr als die Hälfte von den Seiler Hotels abgedeckt werden. [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt in den früheren 1920er Jahren] Anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die pachtweise geführten Hotels Zermatterhof und Riffelberg (Meldung der Verlängerung des Pachtvertrages durch die Gemeinde in der Neue Zürcher Zeitung vom 15. Oktober 1894, Nr. 286, S. 1) [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt vor 1904] standen die grossen Belle Epoque-Häuser Victoria und Beau Site in der Zwischenkriegszeit im Eigentum der Gesellschaft und waren entsprechend aufwendiger zu bewirtschaften. Das Aktionariat setzte sich ausschliesslich aus Familienmitgliedern zusammen.

Mitte der 1960er Jahre, als nach dem Tode Franz Seilers dessen Bruder Theodore E. die Verantwortung für die Hotelgesellschaft übernahm, wurden in Zermatt gemäss Hotelführer des Hoteliervereins rund 3500 Hotelbetten angeboten, davon mit 500 noch ungefähr 14% in Seiler Hotels. Vier Jahrzehnte später, im Jahre 2007, umfasste das Angebot im Matterhorndorf insgesamt 6400 Hotelbetten, hiervon etwas mehr als 10% in Seiler Hotels. Weitere fast 6000 heute in Zermatt zur Verfügung stehende Gastbetten sind der Parahotellerie zuzuordnen, einem Angebotssegment, das vor dem Zweiten Weltkrieg von geringer Bedeutung war.

Ende der 1920er Jahre, ein knappes Jahrzehnt nach der Übernahme der Generaldirektion durch Hermann Seiler, erreichte das Zermatter Unternehmen erstmals einen Jahresumsatz von mehr als 2 Mio. Fr., inflationsbereinigt nach heutigem Geldwert etwa 13 Mio. Fr. Die Einnahmenüberschüsse der Jahre 1928 und 1929 betrugen 351'000 Fr. bzw. 329'000 Fr., nach aktuellem Geldwert ungefähr 2, 3 Mio Fr. bzw. 2, 1 Mio Fr. (vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung vom 7. Juni 1930, Nr. 1117, Blatt 1; für die Jahre 1925 und 1926 Neue Zürcher Zeitung vom 3. Juli 1927, Nr. 1121, Blatt 5).

Stellt man in Rechnung, dass die Wintersaison damals von Hermann Seiler zwar initiiert war (vgl. oben D. 2.), aber mit etwa 7600 Logiernächten im Jahre 1929 (dem Spitzenjahr der Zwischenkriegszeit hinsichtlich der Gesamtzahl an Logiernächten), folglich 4, 9% von im Gesamtjahr total 159'900, noch eher geringe Umsatzrelevanz hatte, indes im Halbjahr 2006/07 mehr als hundertmal soviel, insgesamt 773'600, und anteilsmässig 3/5 der Zermatter Übernachtungen während der Wintersaison generiert werden, die Seiler Hotels Zermatt AG im Geschäftsjahr 2006/07 sogar 79, 2% des Gesamtumsatzes im Winterhalbjahr erwirtschaftet, ergibt sich für die Jahre vor der Pfundabwertung und dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise 1931 ein zu vergleichender inflationsbereinigter hypothetischer Jahresumsatz weit über 30 Mio. Fr.

Nach der Jahrtausendwende, acht Jahrzehnte später, weist die gleiche Gesellschaft gastgewerbliche Umsätze bis knapp 30 Mio. Fr. (29, 15 Mio. Fr. im Jahre 2006/07) aus.

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10. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verkaufte die Familie Eduard Seiler das Hotel und Restaurant Ermitage in Küsnacht. Weshalb?

Die Sitzzahl im Innern des Restaurants und die Bettenzahl des Hotels waren wegen der lagebedingten baureglementarischen Beschränkung der Ausnützungziffer kaum zu erhöhen. Auch hier zeichnete sich, bei einem Mitarbeitendenbedarf von mindestens 50 Personen, mittel- und langfristig eine aporetische Zuspitzung der Festkostenproblematik ab. Das Haus wurde 2004 ganz von einer Unternehmerfamilie übernommen, die zu den vermögendsten Deutschlands zählt. Ein Jahr später teilte der Verwaltungsrat mit, man habe erkennen müssen, dass das Vier-Sterne-Hotel mit nur 25 Zimmern trotz exklusiver Lage nicht mehr rentabel hätte betrieben werden können (Allgemeine Hotel- und Gastronomie-Zeitung, 2005, Nr. 22, S. 12). Einen zweiten und dritten Grund für den Verkauf bildeten der in den 1970er Jahren geplante öffentliche Uferweg und der Unfalltod Eduard Seilers im Frühjahr 1976.

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11. Welche zusätzlichen Optionen gibt es heute für das Hotel Glacier du Rhône?

Der erfolgreiche Wiederaufbau der Furka-Bergstrecke und die Wiederaufnahme des Dampfbahnbetriebs zwischen Realp und Gletsch hat in unmittelbarer Nähe sehr eindrücklich gezeigt, wie viel nichtgewinnorientierte Organisationen bei der Restitution von durch den verkehrstechnischen Fortschritt ihrer ursprünglichen Funktion beraubten, aber verkehrshistorisch wertvollen Objekten zu leisten vermögen. In England widmet sich der National Trust Wiederherstellung und Erhalt historisch bedeutender Gebäude. Einige Bauten werden gastgewerblich genutzt und sind Teil einer Historic House Hotels Collection. Eine denkbare Option für die weitgehend defunktionalisierte Hotelsiedlung Gletsch insgesamt wäre ein denkmalschützerischer Ansatz, der entschieden auf einer nichtgewinnorientierten Zielsetzung und einer organisatorischen Grundlegung aufbaute, die teils zu jener der Dampfbahn und teils zu der des National Trust analog wären und in engem Zusammenwirken mit ersterer verwirklicht würden.

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E. Biografisches

 

1. Welches war das Tätigkeitsfeld von Hermann Seiler, seit den 1920er Jahren Eigentümer der Betriebe von Gletsch?

Hermann Seiler hatte in Paris, Berlin und Bern Rechtswissenschaft studiert. Der promovierte Jurist und Notar wirkte von 1904 an als Stadtpräsident von Brig. 1905-1910 und 1921-1929 war er Grossrat. Im Februar 1910 wurde er in einer „denkwürdigen“ (Walliser Volksfreund vom 18. April 1985, Nr. 88, S. 5) Wahl mit 94 von 101 abgegebenen Parlamentarierstimmen in die Kantonsregierung gewählt (ausführlich zur Wahl der „junge[n], tüchtige[n] Kraft“: Neue Zürcher Zeitung vom 26. Februar 1910, Nr. 56, S. 2). Ein Jahrzehnt lang stand er als Staatsrat dem Finanzdepartement vor - (im Urteil der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. August 1961, Nr. 3055, S. 9) „mit Auszeichnung“; zweimal war er Regierungspräsident.

Nach dem Tode seines Bruders Alexander anfangs März 1920 sah er sich veranlasst, die Verantwortung für das Zermatter Hotelunternehmen zu übernehmen. [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt in den früheren 1920er Jahren] Bis 1925 wirkte er als Nationalrat, seit 1922 war er Mitglied des Zentralvorstandes des Schweizer Hoteliervereins (Meldung der Wahl in der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. Juni 1922, Nr. 779, S. 2), seit 1925 Vizepräsident und von 1927 an (aus der Warte der Neuen Zürcher Zeitung vom 10. September 1930, Nr. 1746, Blatt 4) „hochgeschätzter“ Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins, der sein Amt (gemäss Wortlaut der Neuen Zürcher Zeitung vom 10. Juni 1945, Nr. 909, S. 10) „mit der ganzen Umsicht, Tatkraft und Überlegenheit einer für einen solchen Posten in ungewöhnlichem Masse befähigten Persönlichkeit führte“, „das Vereinsschiff durch die sturmbewegten dreissiger Jahre hindurchsteuerte und seinen ganzen Einfluss daran setzte, dass die Hotellerie die schwere Krisenzeit durchzustehen vermochte“ (Neue Zürcher Zeitung vom 21. August 1961, Nr. 3055, Blatt 9), und so in der Krisen- und Kriegszeit (aus der Sicht der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. August 1961, Nr. 3085, Blatt 5) „wesentlich zur Sanierung des gesamten Gastgewerbes“ beitrug.

Anlässlich des Rücktritts als Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins im Sommer 1945 hoben Mitglieder des Zentralvorstandes im Zusammenhang der Leistungen für den ganzen Berufszweig hervor: „[D]ie grösste und bleibendste Errungenschaft, auf die Herr Dr. H. Seiler zurückblicken kann, ist die Eingliederung der schweiz. Hotellerie in die nationale Volkswirtschaft. Er hat es durchgesetzt, dass unsere Hotellerie von den Bundesbehörden als ein Bestandteil des Wirtschaftslebens unseres Landes anerkannt und gewürdigt wird.“ (Schweizer Hotel-Revue vom 14. Juni 1945, Nr. 24, S. 1 ff.)

Im Frühling 1929 wählten etwa 300 Delegierte aus 18 Staaten Seiler in Rom „einstimmig“ und „unter stürmischem Beifall“ (Neue Zürcher Zeitung vom 30. Mai 1929, Nr. 1036, Blatt 1) zum Präsidenten des Dachverbandes der 18 weltweit wichtigsten nationalen Hoteliervereine, der Alliance internationale de l’ hôtellerie. Nach Ende seiner Präsidentschaft wurde er zum Ehrenpräsidenten auf Lebzeiten ernannt.

Als Vizepräsident des Schweizerischen Fremdenverkehrsverbandes und der Schweizerischen Verkehrszentrale hat er (gemäss Wortlaut der Neuen Zürcher Zeitung vom 21. August 1961, Nr. 3055, Blatt 9) „sowohl auf fremdenverkehrspolitischem wie auf dem Gebiet der Verkehrswerbung massgeblich an der Lösung der damals schwebenden Probleme mitgewirkt“. Die Landesregierung berief ihn in den Verwaltungsrat der Schweizerischen Bundesbahnen (Meldung der Wahl in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. März 1928, Nr. 407, Blatt 1) und ihn den Bankrat (das Aufsichtsorgan) der Schweizerischen Nationalbank, er war Verwaltungsrat der Bern-Lötschberg-Simplon Bahn, Mitglied der Schweizerischen Handelskammer (des erweiterten Vorstandes des Schweizerischen Handels- und Industrievereins) und Kommandant eines Infanterieregiments.

Die Basler Nachrichten vom 5./6. Mai 1956 (1. Beilage zu Nr. 189, Seite 2, linke Spalte Mitte) urteilten in ihrer Geburtstagsadresse über den 80jährigen: „[E]r gehört zu jenen initiativen, zielbewussten und kultivierten Unternehmern, welche die schweizerische Wirtschaft auf ihre heutige Höhe gebracht haben.“

Das Tagesgeschäft in Gletsch wurde nicht von ihm, sondern von seinen Geschwistern Joseph und Katharina und, nach dem Hinschied des ersteren im Jahre 1929, seinem Sohn Eduard geführt, jenes in Zermatt ebenfalls während seiner Generaldirektion bis 1943 vornehmlich von Mitgliedern der zahlreichen Familie (ausführliche Hinweise bei Fred Ammann: Schweizer Gastgeberfamilie, Folgeheft 14, Biel 1980). Seit Beginn der 1960er Jahre war in Gletsch dafür Rosemarie Seiler zuständig, bis 1976 zusammen mit Eduard Seiler.

Auf die hochdisziplinierte Arbeitshaltung und Tagesgestaltung Hermann Seilers und seiner Ehefrau, welche vom Umfang der oben dargetanen Arbeitslast geprägt war, wies der Walliser Bote (vom 6. September 1955, Nr. 71, S. 1) mit Bezug auf die Zeit der Zermatter Generaldirektion zwischen 1920 und 1943 andeutungsweise hin: „[S]ie [Elisabeth Seiler-Cattani] und ihr Gatte [waren] am Morgen [vor den 600 bis 700 Mitarbeitenden der Zermatter Hotelgesellschaft] die ersten.“

Der Unternehmensverantwortliche und Vater von 13 Kindern bezog in den 1930er Jahren einen Monatslohn von 1700 Fr. (nach heutigem Geldwert ungefähr 10'000 Fr.). Die meisten obgenannten Tätigkeiten waren entweder ehrenamtlich oder eher symbolisch entlöhnt. Infolge der Weltwirtschaftskrise wurden von der Zermatter Hotelgesellschaft seit 1931 keine Aktiendividenden ausgeschüttet (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 8. Mai 1942, Nr. 727, S. 3).

Vita Dr. Hermann Seiler i.d. FS d. Schweizerischen Fremdenverkehrsverbandes

zur Tätigkeit als Zentralpräsident der Schweizerischen Hoteliervereins insbesondere

weiterführende Literatur

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2. War Hermann Seiler Hotelier?

Der jüngste Sohn Alexander des Älteren war promovierter Jurist wie sein Bruder und Vorgänger als Verantwortlicher des Zermatter Unternehmens, Alexander der Jüngere, und sein Neffe und Nachfolger, Franz. Auf letzteren folgte in Zermatt dessen Bruder Theodore E., der Bankfachmann - zuletzt Generaldirektor und Verwaltungsrat des Schweizerischen Bankvereins sowie anderer Banken und namhafter Firmen - war und sich in weitreichender Kenntnis der Leistungen seines Onkels Hermann als Vorsteher des Walliser Finanzdepartements und Verwaltungsrat öffentlicher und privatwirtschaftlicher Unternehmen seinerseits mitunter als „zweiter Finanzmann an der Spitze der Hotelgesellschaft“ bezeichnete.

Die hotelfachlichen Kenntnisse und Erfahrungen aller Genannten beruhten darauf, dass sie seit früher Kindheit mit dem Hotelgeschäft in enger Berührung standen, nicht auf einer beruflichen Hotelfachausbildung. Der Firmengründer, Alexander der Ältere, war fast ausschliesslich Autodidakt.

* * *

Hermann Seiler im Jahre 1908 als Leiter des Hotels Riffelalp mit Mitarbeitenden.

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In jenem Jahrfünft zählten der belgische Thronerbe, seit 1909 König Albert I., (2. v. rechts) und seine Gemahlin (links im Hintergrund) zu den wiederkehrenden Gästen des Hauses. (Aufnahme von 1908.)

* * *

Francisca Duarte, Herzogin von Bragança und portugiesische Thronprätendentin, während einer ihrer sechs Sommerfrischen in Gletsch. (Aufnahme zwischen 1938 und 1944.)

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Der Rechtsanwalt und Notar führte zwischen 1906 und 1910, während er das Amt des Briger Stadtpräsidenten versah, in der Sommersaison als Direktor das Hotel Riffelalp, das damals in voller Blüte stand und anspruchsvollste Stammgäste anzog wie etwa das belgische Königspaar. Die Fürstin von Liechtenstein und Erzherzogin von Österreich, die portugiesischen Thronprätendenten, die Herzöge von Bragança und von Bourbon, und die Infantinnen von Portugal gaben in den 1930er und 1940er Jahren dem Hotel Glacier du Rhône, Hermann Seilers Privatbetrieb, regelmässig vor allen anderen Schweizer Hotels den Vorzug als Haus für ihre mehrwöchige Sommerfrische.

Die Hotels des Zermatter Unternehmens unter der gleichen Oberleitung [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt in den früheren 1920er Jahren] frequentierten in der Zwischenkriegszeit beispielsweise die Zaren Ferdinand von Bulgarien (in Wiederholung eines fünf Jahrzehnte zurückliegenden Besuchs: vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 18. August 1933, Nr. 1488, S. 2) und (bereits in den 1920er Jahren) dessen Nachfolger Boris von Bulgarien, Königin Wilhelmina der Niederlande (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 3. Juli 1925, Nr. 1048, S. 2), die Prinzen Peter von Griechenland und Chichibu von Japan (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 3. September 1926, Nr. 1458, Blatt 2), die Fürsten von Monaco mit ihrem Sohn Rainier als Kleinkind, der englische Premierminister David Lloyd George (vgl. den ausführlichen Bericht über den Aufenthalt in Zermatt sowie auf der Riffelalp und zum Empfang durch Joseph und Hermann Seiler in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. September 1920, Nr. 1457, S. 3 sowie gleichen Datums, Nr. 1459, S. 2 und vom 7. September 1920, Nr. 1463, S. 3), der italienische Ministerpräsident Giovanni Giolitti und der englische Aussenminister Joseph Austen Chamberlain (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 19. Juni 1927, Nr. 1028, S. 2), Kennedys, Morgans, Rockefellers und Vanderbilts, Michelins und Pirellis (detailliert zur Klientel jener Epoche: Emeline Zschokke-Seiler: Vierzig Jahre Ryffelalp, Basel 1974); nicht unüblich waren Besuche von grösseren prominenten Personengruppen wie jener der Teilnehmer der Friedenskonferenz von Lausanne (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 23. Juli 1923, Nr. 1005, S. 1; London Times vom 21. Juli 1923, Nr. 43, 399, S. 10). Hinsichtlich des gesellschaftlichen Rufs, welchen die Klientel widerspiegelte, dürfte die Zermatter Hotelgesellschaft damals ihren Höhepunkt erreicht haben. Signifikanter Ausdruck der Reputation im Wirtschaftszweig in der Schweiz wie im Ausland war in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Wahl des Generaldirektors Hermann Seiler zum Zentralpräsidenten des Schweizer Branchenverbandes und zum Präsidenten des Spitzenverbandes der 18 nationalen Landesorganisationen (vgl. oben E. 1.).

Die von Eduard Seiler, dem ältesten Sohn Hermanns, um 1950 in Küsnacht am Zürichsee geschaffene Ermitage genügte ebenso bis zum Verkauf durch die Familie Seiler in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hohen Standards: König Baudouin von Belgien, die Prinzen von Jordanien und Laos, die Scheichs von Bahrein, Schweizer Bundesräte, Max Frisch und Christina von Opel etwa speisten und übernachteten hier (vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung vom 20. Juni 1961, Nr. 2319, Blatt 1; Zürichsee-Zeitung vom 16. August 1974, Nr. 188, S. 15 und vom 16. September 2005, Nr. 216, S. 5). Die Wertschätzung in der Branche fand ihren Niederschlag in der Wahl des promovierten Staatswissenschaftlers und Verbandspolitikers Eduard Seiler zum Vizepräsidenten der Schweizer Sektion der angesehenen internationalen Relais & Château-Gruppe.

Richtig ist, dass Hermann Seiler bei der Wahrnehmung seiner Verantwortlichkeiten unternehmensstrategischen, politischen, verbandspolitischen, organisatorischen und administrativen Problemstellungen das Hauptgewicht zumass (vgl. oben E. 1.), nicht der extensiven emotiven Mitgestaltung des Hotel- und Ferienalltags einzelner Gäste oder Gästegruppen und deren psychologischer Begleitung und Betreuung während des Aufenthalts in einem der neun bzw. zehn Hotels in Zermatt oder Gletsch, die in den 1920er Jahren insgesamt rund 1400 Gastbetten umfassten. ‚Faire les honneurs‘ durfte sich nach dem Stilempfinden und -verständnis wie auch nach Massgabe der prioritären Aufgabenlast des Unternehmens- und Verbandsführers und ehemaligen Staatsmannes auf einige treffende Sätze beschränken und gemeinsame Nachtessen (oder Barbesuche) eher nicht einschliessen.

Die Rolle des Hoteliers als eines Vermittlers identitätsstärkender sozialer Kontakte unter den Gästen, die Benutzung eines Hotels als Möglichkeit für den Betriebsverantwortlichen, sich selbst zeitlich und emotionell umfänglich als Causeur, Charmeur, Conférencier sowie Spezialzusatzunterhaltungen ad personam oder ad personas bietender und veranlassender Maître de plaisir in die Hotelaufenthalte der Klientel einzubringen - zumal in den 1920er und 1930er Jahren eine stilistisch in verschiedenen (bildungsbürgerlichen, aber auch weniger kultivierten bis hin zu illiteraten) Nuancierungen nicht unübliche Ausprägung der Hoteliers- und Restaurateursprofession -, war ihm (mehr als anderen Familienmitgliedern) fremd und galt ihm als nicht durchwegs dezent, woraus er nicht immer ein Hehl zu machen pflegte - mitunter der einen oder anderen eher ungestüm-emotiv als analytisch-intellektuell veranlagten Person gegenüber in Wahrnehmung seiner Verantwortlichkeit auch für die Unité de style eines in Zermatt mehr als 600 Mitarbeitende umfassenden Hotelunternehmens von Weltruf auf eine Art, die vielleicht als schroff disziplinierend erlebt werden konnte.

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Lunch im Hotel Riffelalp um 1940. Hermann Seiler am Tisch 2. v. links. Stehend zwei Kellnerinnen und zwei Kellner im Frack mit weissem Papillon. Chakteristisch für dieses Haus auf 2200 Meter Höhe das eher zurückhaltend sportliche, aber dennoch sehr gepflegte Interieur. [ Zur Verhaltenskultur im Hotel Riffelalp unter der Generaldirektion Hermann Seilers in der Wahrnehmung Stefan Zweigs]

 

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Wie Franz Seiler im Nachruf vom 29. August 1964 auf seinen Onkel und Vorgänger hervorhob, „verlangte [diese]r Selbstbeherrschung und Pflichtbewusstsein, zwei Eigenschaften, die er selber beispielhaft verkörperte.“

Dem Wesen nach verwandt war ihm die emotionelle Autarkie und das sportliche Understatement grosser englischer Bergsteiger und politischer Verantwortungsträger unter seinen Gästen.

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F. Konfessionelles

 

 

1. Weshalb gibt es in Gletsch zwei Kapellen?

In Gletsch gibt es eine katholische und eine anglikanische Kapelle, weil Katholiken und Anglikaner bis nach dem Ersten Weltkrieg die grösste Mitarbeitenden- bzw. Gästegruppe bildeten. Im Jahre 1932 ging die ursprünglich anglikanische Kapelle nordöstlich des Haupthauses durch Kauf an die Hotelgesellschaft und diente fortan dem katholischen Kult (vgl. Nouvelliste Valaisan vom 27. Juli 1932, Nr. 173, S. 3). Die im Norden felsseitig an das Haupthaus angebaute katholische Kapelle war seit je wegen der schwierigen Geländeverhältnisse ziemlich klein, eng, feucht und dunkel, weshalb sie bis zum Verkauf der Immobilien Gletsch AG ein halbes Jahrhundert später nicht mehr für den Kult genutzt wurde. Der Raum diente als Möbelmagazin.

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2. Weshalb baute der Katholik Joseph Seiler für seine englischen Gäste eine anglikanische Kapelle?

Mit der katholischen Konfessionszugehörigkeit hat der Bau der Kapelle nichts zu tun - weder positiv noch negativ. In der Belle Epoque gab es in der Schweiz an mehr als 60 Orten - protestantischen wie katholischen - anglikanische Kapellen. Diese wurden auf Veranlassung der Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts oder - wie jene in Gletsch - der Colonial and Continental Church Society oder auch anderer unabhängiger Organisationen gebaut und standen in deren Eigentum (vgl. die Liste in: John Wraight: The Swiss and the British, London 1987, S. 284). Ein Grossteil, zeitweise die Mehrheit der Touristen stammte aus England.

Einen ständigen anglikanischen Geistlichen gab es in Gletsch allerdings bereits Jahrzehnte vor dem Bau der Kapelle, spätestens Ende der 1870er Jahre: vgl. London Times vom 3. September 1879, No. 29, 663, S. 5.

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G. Politisches

 

Gibt es einen privaten Brieftext, der die politische Position innerhalb der Familie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs prägnant widerspiegelt?

Am 10. Dezember 1939 schrieb Eduard Seiler, der älteste Sohn Hermann Seilers (nachdem der Bruder Andreas im Juli des gleichen Jahres in einem Unfall zu Tode gekommen war), an seinen damals in Brasilien lebenden Vetter Theodore E. (vgl. oben E. 2.), später als Nachfolger Franz Seilers 1966-1981 Präsident der Seiler Hotels Zermatt AG, folgende Zeilen:

„Inzwischen ist unser armes Europa von dem Unwetter überfallen worden, das sich schon so lange mit schwarzen Wolken am Horizont angekündigt hatte. Insofern war es ja keine Überraschung. Und doch übertrifft die Gemeinheit, mit welcher dieser Krieg vom Zaun gerissen wurde und mit der jetzt wieder das arme Finnland bedrängt wird, alle trüben Vorahnungen. Für das Schweizervolk, das ja mit dem nordischen neutralen Land so viel Verwandtes hat, sind die vergangenen Monate eine Zeit erhebender nationaler Besinnung geworden. Bei uns ist jeder bis zum Letzten bereit, die notwendigen Opfer fürs Vaterland willig zu tragen. Du kannst Dir denken, wie sehr beispielsweise unsere Hotellerie unter den Verhältnissen leidet. Von einer Eröffnung Zermatts in diesem Winter kann keine Rede sein. Aber was bedeutet materielle Entsagung in einem Moment, da so Hohes wie die Freiheit ganzer Völker auf dem Spiele steht. [...] Ich selber bin leider infolge meiner Krankheit im vergangenen Frühling noch nicht diensttauglich. Doch suche ich jetzt eifrig einen Posten (Geistige Landesverteidigung, Rotes Kreuz), wo ich mich nützlich machen kann.“

 

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