Den historischen Abriss ergänzt der nachfolgende Katalog von ausführenden Darlegungen zu einzelnen Fragen. Er wird im Laufe des Jahres 2010 fortgeführt.
* * *
Fragen
A. Zum Interieur des Hotels Glacier du Rhône
Was ist auf Bildern des Interieurs zu sehen, die in den Jahren nach 1984 aufgenommen wurden?
Weshalb befindet sich die Antiquitätensammlung nicht mehr in Gletsch?
B. Soziales
Wie wurden Mitarbeitende in Gletsch entlöhnt?
Lassen sich über die Zufriedenheit der Mitarbeiter einigermassen verbindliche Aussagen machen?
Wie wurden das soziale
Engagement für die Hotelangestellten und die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der Presse der Region
wahrgenommen?
Wie wurden die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der internationalen Presse wahrgenommen?
Gab es in den 1970er Jahren in Gletsch kommunistische Mitarbeitende?
C. Zum Verhältnis zwischen der Hotelsiedlung Gletsch und den Verkehrsmitteln
I. Zur Funktion als Transitstation
Gibt es frühe Textzeugnisse zur Transitstationsfunktion der Herberge am Fusse des Rhonegletschers?
Gibt
es einen neueren Text der Neuen Zürcher Zeitung, in dem die
Hotelsiedlung Gletsch reisekulturgeschichtlich und
hoteltypologisch korrekt eingeordnet wurde?
II. Zum Bau der Furkastrasse
Weshalb und auf wessen Veranlassung wurde die Furkapassstrasse gebaut?
III. Zur Brig-Furka-Disentis bzw. Furka-Oberalp Bahn
Welcher Art war der Zusammenhang zwischen dem Kanton, der Famlie Seiler und der Bahngesellschaft?
Was für eine Bedeutung hatte die Bahn für die Hotels beim Rhonegletscher?
Gab es einen Zusammenhang zwischen der Einstellung des Zugbetriebs
zwischen Oberwald und Realp im Oktober 1981 und der Aufgabe des
Hotelbetriebs in Gletsch im September 1984?
IV. Zur Defunktionalisierung der Hotelsiedlung
Welche
Orte kann man sich vergegenwärtigen oder besuchen, um die
Defunktionalisierung der Transitstation Gletsch als verkehrshistorisches
Phänomen in einem länderübergreifenden Kontext besser zu verstehen?
D. Zu Unternehmensstrategien, -kommunikation und -entwicklungen
Hermann
Seiler stand seit Beginn der 1920er Jahre als Generaldirektor an der
Spitze der Zermatter Hotelgesellschaft, die damals sieben (bzw. zeitweise acht) Hotels mit
ungefähr 1000 Gastbetten umfasste. Sind für dieses Jahrzehnt distinkte
Unternehmensstrategien für die Betriebe in Zermatt und Gletsch
auszumachen?
Im
Dezember 1927 lancierte Hermann Seiler die erste Zermatter
Wintersaison. Ist die Entscheidfindung im Verwaltungsrat der Seiler
Hotels Zermatt AG dokumentiert?
Gab
es einen kausalen Zusammenhang zwischen der investorischen Zurückhaltung der
Immobilien Gletsch AG im gastgewerblichen Bereich und der Planung eines
Stausees?
Was für Angaben gab es über die Erträge aus den Nebenbetrieben?
Wurde in Gletsch Entwicklung verpasst?
Welche Optionen gab es für die Gebäulichkeiten in Gletsch nach 1984 im Falle der Nichtverwirklichung des Stauseeprojekts?
Wie haben sich andere Hotels an der Furkapassstrasse seit dem Ersten Welt entwickelt?
Wie ist die Entwicklung in Gletsch im Verhältnis zu jener der Zermatter Gesellschaft zu sehen?
Wie hat sich das Zermatter Unternehmen seit der Zwischenkriegszeit entwickelt?
In
der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verkaufte die Familie Eduard Seiler
das Hotel und Restaurant Ermitage in Küsnacht. Weshalb?
Welche zusätzlichen Optionen gibt es heute für das Hotel Glacier du Rhône?
E. Biografisches
Welches war das Tätigkeitsfeld von Hermann Seiler, seit den 1920er Jahren Eigentümer der Hotels in Gletsch?
War Hermann Seiler Hotelier?
F. Konfessionelles
Weshalb gibt es in Gletsch zwei Kapellen?
Weshalb baute der Katholik Joseph Seiler für seine englischen Gäste eine anglikanische Kapelle?
G. Politisches
Gibt
es einen privaten Brieftext, der die
politische Position innerhalb der Familie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs prägnant widerspiegelt?
* * *
Antworten
A. Zum Interieur des Hotels Glacier du Rhône
1. Was ist auf Bildern des Interieurs zu sehen, die in den Jahren nach 1984 aufgenommen wurden?
Zur
Anmutung des Hotels in der letzten Woche vor der Schliessung im
September 1984 aus der Warte eines Journalisten, der während mehrerer
Tage Augenzeuge war: „Keine Nachlässigkeit, nicht in der letzten
Stunde, Stil war die Qualität des Hauses, Stil im Bau, Stil in der
Pflege ...“ (Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 53). Das Haus
wurde in der Belle Epoque mit ungefähr 130, in den früheren 1970er
Jahren mit rund 80 und in den 1980er Jahren mit 60 Mitarbeitenden
geführt (vgl. z.B. Walliser Bote vom 17. September 1984, Nr. 216, S.
12).
Zum
Personalbestand bis 1984 gehörte neben Kadermitarbeitenden, die den
Anstellungskriterien von Häusern allerersten Ranges genügten und im
Winter und in den folgenden Jahren auch oft in solchen arbeiteten, ein
fester Handwerkerstab. So mindestens je ein Schreinermeister,
Malermeister, Sanitär und Elektriker, denen zusammen mit anderen Mitarbeitenden der ständige Unterhalt des
Hauses und dessen Pflege oblag.
Auf Bildern, die nach 1984 entstanden, sind die Innenräume eines Betriebes zu sehen, der unter von Seiten der
Käuferschaft ausdrücklich als beabsichtigt erklärter „Abkehr vom
Seilerschen Hotelstil“ und Ausrichtung auf einen „Volkstourismus“
(Walliser Bote vom 2. Oktober 1984, Nr. 229, S. 10; entsprechend: Valais demain vom 12. Oktober 1984, Nr. 35, S. 3)
mit einem Bruchteil der Zahl von Mitarbeitenden (weniger als zwölf -
zeitweise sieben oder acht) geleitet wurde.
Möglicherweise
illustrativ für hauswirtschaftliche Aktualität im ‚volkstouristisch‘ und unter
„Abkehr vom Seilerschen Hotelstil“ geführten Betrieb im Sommer 1996 die
in der Neuen Züricher Zeitung vom 28./29. September 1996 (Nr. 226, S.
79) abgedruckte Fotografie eines (noch?) nicht gemachten Bettes in einem Gästezimmer. [ Ausführlicher Bildkommentar]
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2. Weshalb befindet sich die Antiquitätensammlung nicht mehr in Gletsch?
Die
von Joseph, Hermann und Eduard Seiler zusammengetragene Sammlung war seit je
privates Eigentum, schmückte aber als Leihgabe die Räume des Hotels.
Bereits der Präsident des Alpine Club, welcher in Gletsch über Jahrzehnte Stammgast war und den Nachruf auf Joseph
Seiler verfasste (Alpine Journal, November 1929, Nr. 239, S. 400 f.), sah in der
Sammeltätigkeit des Verstorbenen dessen persönliches „hobby“. Hermann
Seiler brachte die Sammlung 1956 nicht in die
damals gebildete Immobilien Gletsch AG ein, die achtundzwanzig Jahre später vom Kanton gekauft wurde. Für den 80jährigen Hotelunternehmer
stand zum Zeitpunkt der Konstituierung der Aktiengesellschaft ausser Frage, dass der Hotelbetrieb in der
anspruchsvollen Form, welche die gastgeberische Tradition der Belle Epoque fortführte, wegen des betriebswirtschaftlichen und
touristischen Wandels langfristig keinesfalls überlebensfähig war (richtig: Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 55).
Die
Ausstattung des Hotels mit Antiquitäten des 17. und 18. Jahrhunderts
war ein Interieurkonzept, das Joseph Seiler aus Rom und London nach
Gletsch übertragen hatte. Es entsprach dem Geschmack seiner teilweise „höchst
vornehme[n] internationale[n]“ (Karl Kinzel: Wie reist man in der
Schweiz? Schwerin 1913, S. 89) Klientel in der Belle Epoque.
Seit
den 1950er Jahren und besonders in den ausgehenden 1960er Jahren
wurde der Verbleib der Antiquitäten im Hotel aus verschiedenen Gründen
zunehmend prekär:
1.
Spätestens
seit der ersten Hälfte der 1850er Jahre verbrachte ein
sogenannter Winterknecht als Wächter den Winter im Gasthaus in Gletsch [Beleg: Anonymus (An Old bengallee in Switzerland): Notes of a Trip abroad, with details of a six days walk in Switzerland, in May 1866,
in: Calcutta Review, Calcutta/London, Nr. XC, 1867 (?), S. 357 ff. (Schilderung
eines touristischen Etappenhaltes in Gletsch am 24. Mai 1866 und
Bericht über ein Gespräch mit dem ehemaligen neapolitanischen Söldner,
der diese Charge während 13 Jahren versah)]. Vor
dem Ersten Weltkrieg waren es während der damals ungefähr achtmonatigen
Schliessungszeit des Betriebs bis zu anderthalb Dutzend Angestellte, die in der während dieser Zeit
sonst unbewohnten Hotelsiedlung blieben.
In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde es
schwieriger, in
den 1970er Jahren unmöglich, Personen zu finden, die bereit waren, diese psychisch und physisch anspruchsvolle Wächterfunktion zu übernehmen (vgl. z.B. Walliser Bote vom 2.
Februar
1967, Nr. 23, S. 5; Walliser Volksfreund vom 12./13. Mai 1979, Nr. 110.
S. 3). Der nächste ganzjährig bewohnte Ort Oberwald ist eine Wegstunde
entfernt und winters nur auf Skiern oder im Helikopter erreichbar.
Demzufolge
waren die Antiquitäten zwischen und
unter bis zu fünf Meter hohen Schneedecken monatelang
unbewacht.
2.
Während der Betriebszeit und kurz nach der Schliessung kam es immer
häufiger zu Raubüberfällen und Diebstahl durch Personen, die weder Gäste noch Mitarbeitende waren und mit dieser Absicht nach Gletsch reisten. Den Abtransport von geraubten
und gestohlenen Antiquitäten erleichterte der
verkehrstechnische Wandel seit den 1960er Jahren (Ausbau der Strassen,
Vervielfachung des Privatautoverkehrs). Gotische
und barocke Statuen wurden aus der Kapelle neben dem Hotel gestohlen,
ebenso überfallmässig Teile des Zinngeschirrs im grossen Speisesaal und
historische Waffen aus dem Eingangsbereich vor dem Restaurant. Da die Funktion
eines Passantenhotels für den Betrieb vital war, konnte das grosse
Gebäude mit betriebsnotwendigerweise vielen Eingängen unter
angemessenem Aufwand nicht hinreichend gesichert werden (zum
Problemkomplex: Tages Anzeiger vom 25. September 1984, Nr. 223, S. 53).
3.
Konstitutiv für die im Rahmen der gehobenen Traditionshotellerie inszenierte Lebenskultur war
- wie zu Hofe und bei Festen - die
Einhaltung von Verhaltenscodices. Wer ein Hotel betrat, nahm
gleichsam Teil an einem aus dem Stegreif kollektiv inszenierten bzw. choreografierten
Schauspiel oder Ballett, das auf Verhaltensregeln und ästhetischen Regeln gründete,
hinsichtlich deren Respektierung unter den
Akteuren - den Gästen, dem Hotelier und den Mitarbeitenden -
weitgehend Konsens bestand. (Vgl. z.B. allgemein für die internationale Traditionshotellerie und speziell zu den Ritz Hotels in London und Madrid: Prinz Asfa-Wossen Asserate: Die perfekte Gastlichkeit,
in: NZZ am Sonntag vom 26. Dezember 2004, Nr. 52, S. 61; aus englischer Warte zur
Gültigkeit viktorianischer Verhaltensregeln beispielsweise im Hotel
Riffelalp: London Times vom 23. März 1961, Nr. 55, 037, S. 16; zur Verhaltenskultur in diesem Haus während der Zermatter Generaldirektion Hermann Seilers aus der Sicht eines Angehörigen des jüdischen Grossbürgertums und Intellektuellen: Stefan Zweig u. Friderike Zweig: Unrast der Liebe: ihr Leben und ihre Zeit im Spiegel ihres Briefwechsels, Bern 1981, Briefwechsel vom 9. August 1926 und ff.: „Das Hotel [Riffelalp] ganz mein Genre, sehr englisch, ein paar Basler Patricier, gar keine Deutschen [...] Das einzige, was mich ärgert, ist die Schweizer-englische Sittlichkeit - man kann nirgends sich das Hemd oder auch nur den Kragen ausziehen. So sind wir alle wie Krebse im Gesicht und unter dem Kragen blühweiss, indes es doch gerade wunderbar wäre, Höhensonne in den ganzen Körper zu bekommen. [...] Eigentlich ist es Wahnsinn, überhaupt von hier wegzugehen.“; Illustration: Lunch im Hotel Riffelalp knapp anderthalb Jahrzehnte später, um 1940; zur lebenskulturellen Stilhöhe des Zermatter Sommertourismus im gleichen Jahrzehnt: Neue Zürcher Zeitung vom 4. September 1925, Mittagsausgabe Nr. 1377, Blatt 4, Seite 1: „Mit dem Parfüm der nahen Lärchenwälder und der Alpweiden mischt sich der Odem der grossen Welt. Eine Quintessenz von Kultur, Reichtum, Vornehmheit und gepflegter Lebenshaltung wie selten auf so engem Fleck vereinigt. Wenn ich an den etwas grellen Glanz von Gstaad, St. Moritz oder Davos denke, eine Atmosphäre con sordino.“ Zum weltstädtisch anmutenden touristischen Leben in Gletsch während der Belle Epoque: Fritz Bühler: Das Haslital und die neue Grimselstrasse. Eine Fahrt von Meiringen nach Göschenen. Beschreibung, Geschichte und Sagen, Luzern 1895, S. 72 f.: „Wenn im Hochsommer die Furka-, die Grimsel- und die Walliser Post hier eintreffen, und dazu die zahlreichen Touristenschwärme zu Pferd und zu Fuss von der Meienwand herniedersteigen, so herrscht hier ein Leben und ein Verkehr wie auf den grossen Boulevards in Paris. Gesichter und Typen aller Nationen wimmeln um dieses Hotel herum und kommen, gehen und drängen sich unaufhörlich, wie in einem Bienenschwarm.“)
Höflichkeit als
formalisierte Achtsamkeit und Behutsamkeit im Umgang mit dem Gast, Behutsamkeit des Gastes selbst gegenüber dem ihm Gebotenen, nicht selten allgemein rigide Beachtung ästhetischer und sittlicher Dezenz waren
Elemente der Spielregeln, die, in Varianten nach nationaler und sozialer Herkunft und Bildung der Klientel und der Hoteliersfamilie, das Leben in Häusern der anspruchsvollen Traditionshotellerie charakterisierten.
Seit
Ende der 1960er Jahre zeichnete sich europaweit mit dem Verblassen der bürgerlichen Kultur förmlichen
Verhaltens in der Öffentlichkeit und der bürgerlichen
Repräsentationskultur ein Wandel im Verhalten der Gäste auch
distinguiertester Hotels ab. Vgl. Monique Ritz über einige ihrer
Gäste im Pariser Ritz: „Ils se conduisent beaucoup plus mal chez nous qu' ils ne le
feraient chez eux.“ (Paris Match vom 14. April 1973, Nr. 1249, S.
69.) Laut ergänzendem mündlichem Bericht der vom französischen Wochenmagazin zitierten Schwiegertochter von Cäsar Ritz konnte man sich in jenen Jahren an der Place
Vendôme mit vermögenden Gästen konfrontiert sehen, die am Tag ihrer Abreise einen Louis XVI-Nachttisch in seine Teile zerlegt hatten und im Reisegepäck aus dem Hotel zu
schmuggeln versuchten.
In der Halle des
Glacier du Rhône dienten die Armlehnen von musealen Stühlen des 17.
Jahrhunderts aus dem Stockalperpalast wohlhabenden, aber wenig
kulturbewussten und rücksichtsvollen Hotelgästen dazu, Zigaretten
auszudrücken. Aus einer Schweizer Grossstadt als Gruppe angereiste
Warenhausangestellte nutzten die Abwesenheit von
Mitarbeitenden des Hotels, um wiederholt am frühen Morgen in der Walliserstube auf
dreihundertjährigen Gommer Sakristeitischen - nota bene: ohne sich der Schuhe zu entledigen - Tanzparties zu veranstalten. Ölbilder
des 18.
Jahrhunderts in den Korridoren wurden mit Kugelschreibern bekritzelt
und ebenso bleibend beschädigt. Passanten
auf dem Weg zu den Toiletten bedienten sich von Jahr zu Jahr
häufiger des mit der Gravur der Firmenenseigne versehenen Hotelsilbers
auf den Restauranttischen als ‚Souvenirs‘. (Deshalb mussten die Zugänge
zum Grand Restaurant neu in den 1970er Jahren sogleich
nach Beendigung des Mittagsservice mit einer Kette versperrt werden.) Originale Kupfer- und Stahlstiche in
den Gängen des Hotels und in den Hotelzimmern wurden mit zunehmender
Häufigkeit wohl ebenfalls in diesem Sinne mitgenommen.
Dies
alles, obschon ein Grossteil der zuletzt noch 60 Mitarbeitenden
(Kellner, Portiers, Zimmermädchen) in ihrer Doppelfunktion als
Hotelangestellte und Museumswächter instruiert wurde und auch letztere
Aufgabe konsequent ausübte. Manche langjährigen Kadermitarbeitenden
waren mit dem
Interieur affektiv nicht weniger verbunden als die Familie Seiler, was
innerbetrieblich einen über die Jahrzehnte hin fest etablierten
kunstkonservatorischen Wertekosmos schuf, der die im Umgang mit den Objekten notwendige Sorgfalt
seitens der Angestellten zur Folge hatte.
Der
Verbleib von Antiquitäten in Räumen hingegen, in denen nicht ständig mindestens
ein aufmerksamer Mitarbeitender anwesend war, bildete ein
Risiko, das bereits in den 1970er Jahren kaum
mehr zu tragen war. Verstärkte museumsähnliche personelle und
technische Dispositionen mussten zur unabdingbaren Voraussetzung
gemacht werden für die vorläufige weitere Überlassung der
unentgeltlichen Leihgaben an den Hotelbetrieb.
Im
Jahre 1984 bestand seitens der Käuferschaft kein Konzept für eine
Fortführung des Betriebs im tradierten Stil. Intendiert war eine
„Abkehr vom Seilerschen Hotelstil“ unter Ausrichtung auf einen
„Volkstourismus“ (vgl. oben A. 1.)
mit einem Bruchteil der Zahl von
Mitarbeitenden (weniger als einem anstatt fünf Dutzend und mit einem
Pächter, der im folgenden Jahr die Berufsausbildung abschliessen
wollte: vgl. Nouvelliste Valaisan vom 14. Oktober 1985, Nr. 238, S. 1).
Ebensowenig bestand ein
irgendwie geartetes Museumskonzept für das Interieur (vgl. die
Zitierung des Verantwortlichen der Käuferschaft im Walliser Boten vom
2. Oktober 1984, Nr. 229, S. 10: „Kommt Zeit, kommt Rat.“). Vor dem
Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrung war das Schicksal im Hotel
verbleibender Antiquitäten mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit absehbar.
Das
Befürchtete trat gemäss Bericht einer Pächterin der 1990er Jahre
gegenüber dem Journalisten eines Reisemagazins ein:
Sogar Elemente des kunsthandwerklich weniger bedeutenden oder unbedeutenden Mobiliars,
welche nicht Teil der privaten Sammlung waren und im Herbst 1984 im Hotel zurückblieben,
wurden laut
ihr nach der Schliessung oder vor der Öffnung des Hauses - wenn die
Strasse befahrbar, das Gebäude jedoch
unbewohnt und unbewacht und die zahlreichen Türen und Fenster nicht
hinreichend gesichert waren - nicht bloss
vereinzelt, sondern „wagenweise
[...] gestohlen“ (Berge, November/Dezember 1993, Heft 63, S.
31).
In
Anbetracht dieser als fast zwingend voraussehbaren und in der Folge
tatsächlich eingetretenen Entwicklung muss der Beschluss von Erben,
einen Teil
der bedeutenderen Antiquitäten nicht dem Kanton zusammen mit der
Immobiliengesellschaft zu verkaufen, sondern
als Schenkung mit kunstkonservatorischen Auflagen der Stadtgemeinde
Brig zu überlassen, mehr als angemessen scheinen. Auf Vorschlag der
Verwaltung des
Stockalperpalastes hin wurden die Objekte nicht auf mehrere Räume
verteilt,
sondern in einem einzigen Raum, der hinreichend Schutz bietet,
versammelt. Ebenso gemäss
Vorschlag der Verwaltung wurde der Raum zu Ehren des ehemaligen Briger
Stadtpräsidenten
und Oberwalliser Staatsrats
Hermann Seiler als „Seilerzimmer“ bezeichnet (ausführlich zur
Schenkung: Walliser Bote vom 12.
September
1987, Nr. 211, S. 8). Dem Geehrten gehörte die Sammlung, und ihm ist es zu verdanken,
dass das Hotel in Gletsch
als Hommage in
der von Joseph Seiler etablierten Tradition bis 1984 fortbestand. Der
Kontext des Stockalperpalastes ist auch kunsthistorisch adäquat, da es
sich um Oberwalliser Kulturgut des 17. und 18. Jahrhunderts aus
patrizischem Besitz handelt.
Im
Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte dürften zu den bereits übereigneten Objekten im Zuge
weiterer Schenkungen andere aus dem Eigentum der Familie hinzukommen.
Kunsthistorisches Inventar der Sammlung Dr. Hermann Seiler
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* * *
B. Soziales
1. Wie wurden Mitarbeitende in Gletsch entlöhnt?
Joseph
Seiler machte seine Gäste laut Prospekt der Zeit um 1900 darauf
aufmerksam, dass sie den Kutschern seiner Fuhrhalterei ein
„regelrechte[s]“ Trinkgeld von 10% des Fahrpreises schuldeten. Für eine
fünf- bis sechsstündige Fahrt im Zweispänner beispielsweise von Gletsch
nach Brig betrug dieses 6 Fr., nach heutigem Geldwert ungefähr 72 Fr. [Beleg: Tarifliste der Fuhrhalterei Joseph Seilers].
Der Betrag wurde, nach Massgabe der wertmässig vor allem vom Hotelier
erbrachten Leistungen (Bereitstellung von Pferden,
Wechselpferden und Kutsche für diese Strecke) berechnet, dem Kutscher vom Gast
direkt ausgehändigt - oft, wie der Hotelier mit dem Adjektiv
„regelrecht[]“ in der Tarifliste nahezulegen versuchte, mit einer erklecklichen
Zugabe, die dem Engagement und der Qualität der Leistung Rechnung
trug. Der Hotelier kam für Kost und Logis des Mitarbeitenden
auf, damals Hauptteil der Lebenshaltungskosten Mitarbeitender im Gastgewerbe.
In
der gesamten Schweizer Hotellerie war dies für einen Grossteil des
Personals - Kellner, Portiers, Zimmermädchen usw. - jahrzehntelang das
übliche Entlöhnungssystem (vgl. z. B. die Wirtschaftszeitung Cash vom
25. Juni 1999, Nr. 25, S. 24: „Seit 1974 gilt in den Schweizer Gaststätten
‚Service inbegriffen‘ - es muss kein Trinkgeld mehr bezahlt werden. Bis
dahin erhielt das Servicepersonal Kost und Logis vom Arbeitgeber, das
Trinkgeld war der Lohn.“).
Dem
obligatorischen Trinkgeld, das vom Gast den Mitarbeitenden geschuldet wurde,
plus Zugabe kam vor der Umstellung des Entlöhnungssystems in den 1970er Jahren grosse Bedeutung zu: Im Geschäftsbericht des Schweizer Hoteliervereins des
Jahres 1929 (S. 20) konnte festgestellt werden, infolge der
Trinkgeldberechtigung im Gastgewerbe seien die betreffenden
Frauenberufe in der Schweiz die attraktivsten überhaupt, um derenthalben herrsche in diesem Bereich des Berufszweigs (im Gegensatz zu anderen) kein Personalmangel.
Dass
in Gletsch jemand schlechter gestellt gewesen wäre als die Kutscher
oder die Entlöhnung der Mitarbeitenden zu irgendeinem Zeitpunkt im
Vergleich mit dem im Schweizer Gastgewerbe Üblichen
unterdurchschnittlich gewesen wäre, ist höchst unwahrscheinlich. Die
Familie Seiler stellte 37 Jahre lang den Zentralpräsidenten des
Schweizer Hoteliervereins. (Hermann Seiler selbst war seit 1922
Mitglied des Zentralvorstandes, seit 1925 Vizepräsident, 1927 bis 1945
Zentralpräsident und anschliessend Ehrenpräsident auf Lebzeiten. Zudem war er seit 1932 Ehrenpräsident auf Lebzeiten der Alliance internationale de l’ hôtellerie.) In Entsprechung zur hohen Reputation der Familie im
Berufszweig, auf der die kontinuierliche Wiederwahl und Nachfolgewahl
durch mehrere Tausend Vereinsmitglieder beruhte, und zur Qualität der
gastgewerblichen Leistungen, welche die
Art der Klientel widerspiegelte, dürfte die Mitarbeitertreue, die eine
angemessene Entlöhnung selbstverständlich zur Voraussetzung hatte, im Schweizer
Kontext historisch einen
Spitzenplatz einnehmen.
In
guten Häusern - und in allen der Familie Seiler - gaben wohlhabende
Gäste besonders vor der Systemumstellung zu Beginn der 1970er Jahre dem
trinkgeldberechtigten Personal oft ein Vielfaches des regulären
Trinkgeldes, in sehr guten entsprechend zu den hohen Erwartungen an die
Perfektion der Dienstleistungen nicht selten geradezu exorbitante
Beträge.
Drei
Beispiele seien aufgeführt: Unter der Generaldirektion Hermann Seilers
in Zermatt konnten tüchtige Angestellte des mittleren Kaders wie
Oberkellner, Zimmergouvernanten oder Concierges in den 1930er Jahren in
den Hotels Riffelalp oder Mont Cervin mit
einem durchschnittlichen monatlichen Einkommen von bis zu 1000
Fr. (nach heutigem Geldwert 6000 bis 7000 Fr.) rechnen, im Kontext der oft
sehr einfachen bergbäuerlichen Verhältnisse, aus denen die Personen
stammten und in die sie nach Saisonende zurückkehrten, ein enormer
Betrag. Er erklärt sich daraus, dass die Klientel Trinkgelder in
gleicher Höhe zu geben bereit war wie in den besten Häusern in London, Paris oder New
York, dass vergleichbare Leistungen erwartet und diesen Erwartungen entsprochen wurde. In den 1970er Jahren
beispielsweise bedankte sich eine
Opel-Erbin in der Küsnachter Ermitage von Eduard Seiler, dem
Verwaltungsratspräsidenten der Immobilien Gletsch AG und
Vizepräsidenten sowie Delegierten der Seiler Hotels Zermatt AG, bei der
ungefähr zwanzigköpfigen Kellnerbrigade für die in 18 Stunden im Rahmen
ihrer Hochzeitsfeier erbrachte Leistung mit einem Trinkgeld von
60'000 Fr., nach heutigem Geldwert ca. 120'000 Fr.; der Betrag wurde dem Chef de service am Nachtag des Festes in
Tausendernoten überreicht. Für ein Nachtessen im Kreis von Freunden im gleichen Jahrzehnt zeigte sich der
englische Thronfolger gegenüber dem Chefkoch des Hotels Glacier du
Rhône mit
einem Betrag von 1000 Fr. (inflationsbereinigt heute ungefähr 2000 Fr.) erkenntlich.
Der
Hotelier schuf und bot - in mannigfacher Hinsicht - den konstitutiven
Rahmen,
welcher solche Leistungen und die entsprechenden Trinkgelder überhaupt
erst ermöglichte. Die hohe Professionalität und Disponibilität
tüchtiger Mitarbeitender in manchen Häusern der anspruchsvollen Schweizer
Traditionshotellerie zumal bis in den 1970er Jahren beruhte ohne
Zweifel zu einem guten Teil auf den im Verhältnis zu anderen
Betrieben und Wirtschaftszweigen aussergewöhnlichen
Verdienstmöglichkeiten.
Zu den weitgehend entsprechenden monatlichen Einkommen des mittleren Kaders vor dem Trinkgeld-Systemwechsel in den 1970er Jahren und zum Verhältnis zwischem fixem Salär und multipler Trinkgeldsumme z.B. im oberen Segement der Davoser Berghotellerie: htr hotel revue, Nr. 49, 3. Dezember 2009, S. 15. (Für die 1960er Jahre wird das monatliche Gesamteinkommen inflationsbereinigt im fünfstelligen Bereich angesetzt.)
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2. Lassen sich über die Zufriedenheit der Mitarbeiter einigermassen verbindliche Aussagen machen?
Bester
Gradmesser ist die Zahl der Saisons, für die Mitarbeitende sich
entschieden, einen neuen Vertrag zu unterschreiben, um im gleichen
Betrieb zu arbeiten. Den Rekord hält in den Häusern der Familie Seiler
vielleicht eine Walliserin, die
66 Sommersaisons im Hotel Riffelalp tätig war (erwähnt in der Neuen
Zürcher
Zeitung vom 9. September 1955, Nr. 2357 (36), Blatt 5), die meisten Jahre unter Hermann Seiler
als Vizegeneral- und Generaldirektor. Anlässlich des 75jährigen
Jubiläums der Zermatter Gesellschaft stellte die Neue Zürcher Zeitung
(vom 10. September 1930, Nr. 1746, Blatt 4) heraus, dass 31 der
Mitarbeitenden zwanzig Jahre oder länger in den Seiler Hotels arbeiteten.
Signifikant
ist die Zahl deshalb, weil im Schweizer Gastgewerbe auch beispielsweise
der wirtschaftlich insgesamt schwierigen Zwischenkriegszeit schweizweit
meist deutlich mehr offene Stellen angeboten wurden, als
Stellensuchende sich meldeten (vgl. z.B. die Statistiken in den
Geschäftsberichten des Schweizer Hoteliervereins des Jahres 1931, S. 12 und des Jahres 1938, S. 13),
und weil in allen Häusern der Familie Seiler die Mitarbeitenden fast
ausschliesslich nicht ortsansässig waren, ihnen demnach mehrheitlich
Positionen in hunderten anderer Häuser in der Schweiz als echte
Alternativen offen standen.
Nicht
erst in der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg - wie man
vielleicht gemeinhin annimmt -, sondern bereits damals (und vor dem
Ersten Weltkrieg erst recht) war der Beizug ausländischer
Mitarbeitender in diesem Wirtschaftszweig unabdingbar: „Bei normalen
Zeiten reichte bisher das Angebot von einheimischen Arbeitskräften für
die Sommersaison nicht aus, und die Schweizer Hotellerie wird nicht auf
ausländische Hilfskräfte verzichten können.“ (Geschäftsbericht des Schweizer Hoteliervereins des Jahres 1931, S. 11 f.)
In
den früheren 1970er Jahren waren im Glacier du Rhône rund 80 und im folgenden
Jahrzehnt bis 1984 noch fünf Dutzend Mitarbeitende beschäftigt, von
denen schätzungsweise 80–90% fünf und mehr Saisons, die
qualifiziertesten mehrere
Jahrzehnte und einige der besten (wie Simon Kalbermatten, Concierge und
Maurermeister,
und Germaine Gillioz, Zimmergouvernante der Bel Etage) länger als ein
halbes Jahrhundert fast ohne Unterbruch Jahr für Jahr mit einem neuen
Vertrag in dieses
Hotel zurückzukehren
beschlossen - auch
in jenen Jahren extremer gastgewerblicher Personalknappheit in der
Schweiz,
zahlloser valabler Arbeitsplatzalternativen und von
anderen Hoteliers und Personalverantwortlichen - nicht selten unter
Überschreitung der üblichen Anstandsgrenzen - am Arbeitsplatz selbst
vorgebrachter Stellenangebote.
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3.
Wie wurden das soziale
Engagement für die Hotelangestellten und die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der Presse der Region
wahrgenommen?
Der
Nouvelliste Valaisan vom 2. Juni 1945, Nr. 126, S. 2 schrieb anlässlich des Rücktritts von
Hermann Seiler als Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins: „Il
y a près de 20 ans, en effet, que M. le Dr. Hermann Seiler préside aux
déstinées de la S. S. H. Sa tâche a été d' autant plus difficile que,
depuis 1930, l' hôtellerie suisse traverse une crise aiguë et que la
guerre est venue ajouter encore à ses grandes difficultés. Mais l'
orientation que M. Seiler a donnée à l' acitivité de la S. S. H., ses
compétences techniques et juridiques, son autorité et le crédit dont il
jouit auprès des autorités fédérales sont pour beaucoup dans la
magnifique résistance dont notre hôtellerie a fait preuve.
On
ne saurait non plus, dans les colonnes du Nouvelliste, passer sous
silence ses constantes préoccupations sociales et l' intérêt qu'il ne
cessa de porter à la cause du personnel.“
Der
Walliser Bote hob am 6. September 1955 (Nr. 71, S. 1) anlässlich des Zentenariums
der Zermatter Gesellschaft die „vorbildliche soziale Einstellung“ [...]
„der Jubilarin“ hervor und hielt fest, die grosse Zahl der für
langjährige Mitarbeit Geehrten „ehrt [...] auch die Arbeitgeberin“, bei
der „das Personal gut aufgehoben ist und Saison für Saison wieder
zurückkehrt“.
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4.
Wie wurden die Arbeitsverhältnisse in den Hotels von der internationalen Presse wahrgenommen?
Der
Figaro vom 16. September 1930 (Nr. 259, S. 4; 1. Spalte oben) meinte aus Anlass des 75jährigen Firmenjubiläums der Zermatter Hotelgesellschaft unter der Generaldirektion Hermann Seilers: „...la première de ces familles hôtelières, qui constituent de véritables dynasties, où se lèguent, de père en fils, les meilleures traditions de travail, de loyauté et d' honorabilité, et qui ont très simplement résolu la question sociale en faisant de leurs employés des collaborateurs et des amis.“
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5. Gab es in Gletsch in den 1970er Jahren kommunistische Mitarbeitende?
In
den 1970er Jahren wählten bis mehr als 1/3 (34, 4% im Jahre 1976)
aller wahlberechtigten Italiener
kommunistisch. Entsprechend selbstverständlich waren unter den ungefähr 80
Mitarbeitenden in Gletsch manchmal zwei oder drei 17- oder 18jährige
italienische Kellnerlehrlinge, die
kommunistische Graffiti an die Wände ihres Zimmers kritzelten und
vielleicht manchmal mit den
Vorgesetzten, die dem Stil und Standard des Hauses entsprechende berufliche Lernbereitschaft und Disziplin
erwarteten - wozu der sorgsame Umgang mit Ressourcen und Objekten gehörte -, nicht ganz glücklich waren. Faschisten gab es in
Gletsch nach
Wissen der Familie Seiler keine, und somit bekritzelten die übrigen 77 oder 78
Mitarbeitenden ihre Zimmerwände wohl eher nicht. (Es
wurde angeregt, in der massgeblichen Zeitung des Kantons Wallis im
Laufe der nächsten Monate in spiegelbildlicher Restauration
gegenreformatorischer Borniertheit eine „Geschichte“ der Stadt
Zürich der letzten 140 Jahre zu publizieren, deren
sozialgeschichtlicher Erkenntnishorizont sich im Wesentlichen auf zwei
oder drei „Zürich zureich“-Graffiti von Akteuren der Chaoten-Bewegung in den frühen
1980er Jahren in einer Ecke des Limmatplatzes und elementarste
Unkenntnis der schweizweit üblichen Entlöhnungssysteme beschränkt.)
Die
Hotels, die Einzelgesellschaft, zu der diese gehörten, und später die Immobilien Gletsch AG waren seit 1914 faktisch ein
‚akapitalistischer‘ Betrieb, in dem keine nennenswerten Renditen - über
Jahrzehnte hin überhaupt keine, symbolische oder ein Sitzungsgeld von
250 Fr. für die Teilnehmer der Generalversammlung (richtig: Weltwoche
vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 55) -, wohl aber
branchenübliche oder, zumal unter Berücksichtigung des Trinkgeldes,
bessere
Löhne für mehre Dutzend Angestellte generiert wurden und insofern
sozial par excellence. Dies dürfte sich den (Zimmerwände bekritzelnden) italienischen
Schulabgängern der 1970er Jahre in den ersten Wochen oder Monaten ihrer Kellnerlehre
regelmässig nur sehr
teilweise bzw. gar nicht erschlossen haben. (Zur analog
‚akapitalistischen‘ Führung
des Zermatter Unternehmens ohne Dividendenausschüttungen als l' art pour l' art: Den Gästen Gutes tun, 150
Jahre Seiler Hotels Zermatt, Zürich 2004, S. 50. Unter der
Generaldirektion Hermann Seilers wurden den Mitarbeitenden
selbstverständlich immer die üblichen Löhne, den Aktionären seit 1931
infolge der Weltwirtschaftskrise jedoch keine Dividenden ausbezahlt:
vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 8. Mai 1942, Nr. 727, Blatt 3.)
Bemerkenswert ist
allenfalls, dass es die Hotelleitung des Glacier du Rhône nicht für nötig befand,
die Graffiti zu entfernen. Weder in Gletsch noch sonstwo in einem Haus
der
Familie wurden Mitarbeitende aus Gesinnungsgründen nicht angestellt,
schikaniert, fichiert oder vor die Türe gestellt.
Zum engsten Mitarbeiterkreis der
Familie gehörte eine Person aus Slowenien mit titoistischem Partisanenhintergrund und Parteibuch, die aufgrund
ihrer persönlichen Integrität und fachlichen Kompetenz grösstes Vertrauen
genoss. Andernorts in
der Schweiz war dies damals anders.
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* * *
C. Zum Verhältnis zwischen der Hotelsiedlung Gletsch und den Verkehrsmitteln
I. Zur Funktion als Transitstation
1. Gibt es frühe Textzeugnisse zur Transitstationsfunktion der Herberge am Fusse des Rhonegletschers?
A.
Wäber veröffentlichte unter dem Titel Eine Fussreise vor 60
Jahren im Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, 1892, Jahrg. 27 eine Reisebeschreibung,
welche folgende Passage umfasst (S. 182):
„Der
immer schöne Rhonegletscher empfing hierauf unsere Huldigung, und eine
Karawane berittener Britten beiderlei Geschlechts, welche die Furka
hinanzog, stimmte in unsere Gefühle ein. Schon einige Male war unter
den Wallisern die Rede davon gewesen, am Fusse der Meyenwand, da, wo
jetzt einige elende Ziegenhütten mit Steindächern stehen, ein Wirtshaus
für Reisende zu erbauen, welche, von Realp herkommend, das
beschwerliche Ersteigen der Meyenwand auf den folgenden Tag zu
versparen gedenken und zugleich den vollen Anblick des Rhonegletschers
nach Musse geniessen wollen. Es scheint aber, als habe die Misslichkeit
einer solchen Unternehmung und die Schwierigkeit, die nötigen Summen
aufzubringen, die Ausführung verhindert.“
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2.
Gibt es einen neueren Text der Neuen Zürcher Zeitung, in dem
Gletsch reisekulturgeschichtlich und hoteltypologisch korrekt eingeordnet wurde?
Otto
Frei, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in der Westschweiz,
bezeichnete das Hotel in der Ausgabe vom 4. August 1980 (Nr. 178, S. 9) als „eine der
ältesten und ehrwürdigsten Relaisstationen der Alpen.“
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II. Zum Bau der Furkastrasse
Weshalb und auf wessen Veranlassung wurde die Furkapassstrasse gebaut?
Der
Bau der Strasse erfolgte aus militärischen Gründen, aufgrund der
Einsicht im Zusammenhang des Savoyerhandels, dass schnelle
Truppenverschiebungen aus dem Mittelland und der Ostschweiz an eine
potenzielle Südfront wünschbar waren. Grund war nicht das Hotel in
Gletsch. (Ausführlich z.B. Klaus Aerni: Der Bau der Furkastrasse im Wallis 1863-1866, in: Viastoria, 2006, Nr. 2, S. 26 ff.)
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III. Zur Brig-Furka-Disentis bzw. Furka-Oberalp Bahn
1. Welcher Art war der Zusammenhang zwischen dem Kanton, der Famlie Seiler und der Bahngesellschaft?
Die
Bahn war in der Realisierungsphase im Wesentlichen ein französisches
und Westschweizer Projekt. Im zehnköpfigen Verwaltungsrat der
Bahngesellschaft sass weder ein Mitglied der Walliser Regierung noch
ein Vertreter der Familie Seiler und nur ein Walliser, der Sittener
Nationalrat Evéquoz, hingegen neben dem Verwaltungsratspräsidenten Graf
d' Ormesson zwei weitere Pariser und der Lausanner Banquier Masson als
Investorenvertreter. Mit der Bauleitung betraut war die Pariser Société de Construction des Batignolles, die Aktienmehrheit in
französischen Händen (vgl. Ferdinand Kreuzer: Die Geschichte des Landes
um die Furka, Visp 1982, S. 20 ff.). Der Kanton und die Familie Seiler waren
als Investoren an der Bahn entweder gar nicht oder nur marginal beteiligt.
Zur
vehementen Auseinandersetzung der Brüder Alexander und
Hermann Seiler mit dem Verwaltungsrat der Visp-Zermatt Bahn (die massgeblich
von einem Basler und einem Lausanner Bankhaus finanziert wurde)
um die Frage eines Winterbetriebes Wolfgang König: Bahnen und Berge. Verkehrstechnik, Tourismus und Naturschutz in den Schweizer Alpen 1870-1939, Frankfurt 2000, S. 73 ff. und die dort in den Fussnoten genannte Literatur.
Die
Verhältnisse im agrarisch geprägten Wallis, wo es frei allozierbares
Kapital in grösserem Umfang kaum gab, waren folglich grundlegend
verschieden von jenen beispielsweise in Zürich in der zweiten Hälfte
des 19.
Jahrhunderts. Zur „Mehrfachrolle“ des ‚Eisenbahnbarons‘ Alfred Eschers als Grossrat,
Regierungsrat und Nationalrat sowie Bahnunternehmer beim Bau der
Nordostbahn ausführlich: Joseph Jung, Alfred Escher. 1819-1882. Der Aufbruch zur modernen Schweiz (Teil 2),
Zürich 2006, S. 448 ff. Escher unterschrieb einen Vertrag zwischen dem
Kanton Zürich und der Nord-Ostbahn gleich vierfach selbst, als Zürcher
Regierungsrat, Direktions- und Verwaltungsratspräsident der
Bahngesellschaft und Abgeordneter der Direktion (a.a.O. S. 456
f.). Beim Bau der Gotthardbahn hielten Soldaten und eine Bürgerwehr mit
geladenen Gewehren die Arbeiter in Schach (a.a.O. S. 613).
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.
2. Was für eine Bedeutung hatte die Bahn für die Hotels beim Rhonegletscher?
Die
wirtschaftliche, ästhetische und atmosphärische Blütezeit von Gletsch
fällt in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Gletsch war
in erster Linie „Transitstation im Alpenverkehr“ und
„Reisenden-Karawanserei“ (vgl. Walliser Bote vom 20. Juni 1938, Nr. 67, S. 2 f.) sowie
Pferdewechselstation im öffentlichen und privaten
Pferdekutschenverkehr. Hier erholte sich, speiste und
übernachtete der touristisch Reisende vor oder nach einer
anstrengenden, meist mehr als fünfstündigen Kutschenfahrt oder
Wanderung über einen der beiden oder beide Pässe.
Die
Bahn,
deren erste Teilstrecke 1914 eingeweiht wurde, verkürzte die
Reisezeit von Brig nach Gletsch von fünf bis sechs
auf zwei bis drei Stunden. Nach der Fertigstellung der Eisenbahnlinie
lag es für die Fahrgäste, welche Richtung Furka unterwegs waren,
vorhersehbarerweise nahe, in Gletsch keinen
Halt
einzulegen, sondern im Bahnwagen, der weitaus komfortabler war als die
Kutsche, sitzen zu bleiben und die Fahrt fortzusetzen. (Die Ansicht
des Rhonegletschers konnte auch vom fahrenden Zug aus genossen werden.)
Joseph Seiler wusste um die vitale Funktion des langsamen Reiserhythmus
der Pferdekutschen für seinen Hotelbetrieb und
versuchte das Problem im Rahmen des Möglichen in den Griff zu bekommen.
Im Gegenzug zur Überlassung von Boden für das Schienentrassee stellte
er der Zuggesellschaft die Bedingung, dass der Zug mittags einen
einstündigen Halt einlege. Der letzte Kurs sollte abends hier enden.
(Vgl. z.B. Eisenbahn Journal, Special Ausgabe Januar 2001, S. 56.)
Nach
der Inbetriebnahme der Eisenbahn konnten, wie von Joseph Seiler
befürchtet, in Gletsch nicht mehr, sondern weniger Gastbetten angeboten
werden: zu Beginn der 1920er Jahre anstatt bis zu 320 (wie vor dem
Ersten Weltkrieg) nur 200 bis 250 (vgl. z.B. Blue Guide, Switzerland,
hrsg. von Findlay Muirhead, London/Paris 1923), dann weiter
abnehmend in den früheren 1930er Jahren etwa 200 (gemäss Schweizer
Hotelführer der Jahre 1930 und 1935), Ende der 1930er Jahre noch 150
(laut Schweizer Hotelführer des Jahres 1939).
In
den 1930er und 1940er Jahren verbrachten die Fürstin von Liechtenstein
und die Herzöge von Braganza und von Bourbon im Hotel Glacier du Rhône
regelmässig ihre mehrwöchige Sommerfrische, was deutlich macht, dass
der Nachfragerückgang nicht auf eine mindere Qualität des Gebotenen
zurückzuführen ist.
Die
Bedeutung der Bahn für Gletsch war wegen der
Transitstationsfunktion der Hotelsiedlung, die mit der Zunahme der
Verkehrsgeschwindigkeit sukzessive geschwächt wurde, invers zu jener
der Visp-Zermatt Bahn für die Destination Zermatt, wo die 1891
eröffnete Bahnverbindung die Zahl der angebotenen Gästebetten stark
erhöhte. (Richtig: Paul Budry und Werner Kämpfen: Kleines Zermatter Brevier, Brig und Lausanne 1941, S. 85.) Zudem wurde hier, anders als in Zermatt, die Bahn seit den 1920er Jahren durch den motorisierten Strassenverkehr konkurrenziert
Der Verwaltungsrat der Immobilien Gletsch AG schätzte die Bedeutung des Furka-Basistunnels für die „wintersportlichen Chancen“ und damit die „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ des Goms bis Oberwald vorausschauend als gross und die Auswirkung auf die Gästefrequenz in Gletsch als gering ein, weshalb dessen Präsident öffentlich mit Nachdruck für die Verwirklichung des Bauvorhabens eintrat (so z.B. im Walliser Boten vom 15. Juli 1963, Nr. 80, S. 1 f.).
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3.
Gab es einen Zusammenhang zwischen der Einstellung des Zugverkehrs
zwischen Oberwald und Realp im Oktober 1981 und der Aufgabe des
Hotelbetriebs in Gletsch im Jahre 1984?
Die Gründe für die Aufgabe des Hotelbetriebs waren folgende (Reihenfolge nach Gewicht):
1.
Die lage- und witterungsbedingte Beschränkung der Betriebszeit eines
anspruchsvollen Hotels auf
dreieinhalb Sommermonate lässt eine rentable Betriebsführung nach allgemeinen
hotelbetriebswirtschaftlichen Erkenntnissen je länger desto weniger zu.
Die kurze Betriebszeit erlaubt es grundsätzlich nicht, die langfristig
notwendige Investitionskraft zu generieren. Insbesondere ist daran zu
erinnern, dass Fremdkapital selbstverständlich auch ausserhalb der
Betriebszeit zu verzinsen ist, was eine Multiplikation der
Fremdkapitalkosten zur Folge hat, die in der auf einen Jahresbruchteil verkürzten jährlichen
Wertschöpfungsphase zu erwirtschaften sind; analog ist die Amortisationsdauer für jegliche Investitionen vermehrfacht.
2. Gletsch war seiner Funktion nach in der Hauptsache „Transitstation
im Alpenverkehr“ und „Reisenden-Karawanserei“ des langsamen,
beschwerlichen und teuren Pferdekutschen-Passverkehrs (vgl. C. III. 2.). Synchron ist das Hotel der Gründerzeit und Belle
Epoque in den Kontext der Postgasthöfe und Pferdewechselstationen - im
englischen Kulturkreis: Coaching houses, im französischen: Relais - einzuordnen. Diachron steht die Hotelsiedlung in der
Tradition der Hospize
und Susten, die in den Alpen den Passwanderern und Säumerkarawanen Halbtages- oder Tages-Etappenziel waren. Die
Vervielfachung der Reisegeschwindigkeit auf den Bergstrassen mit einem Faktor 5-8 in sechs
Jahrzehnten liess diese Funktion weitgehend obsolet werden.
Elf
bis zwölf Stunden fährt man heute nicht von Göschenen nach Brig,
sondern von ersterem Ort auf den Autobahnen beispielsweise nach
Brindisi am Südende des
italienischen Stiefels oder - über Gletsch - nach Barcelona an der
Ostküste der iberischen Halbinsel. Vergleichbar verschieden ist der
gastgewerbliche Erwartungs- und Bedürfnishorizont des Gastes, insofern
er an der Transitstation Gletsch wesentlich durch Verkehrsmittel,
Fahrzeit und -komfort
bestimmt wurde.
3. Der Rückzug des Gletschers mindert die landschaftliche Attraktivität des Ortes.
4. Durch den Ausbau der Strassen hat auch der landschaftliche Reiz des Talkessels von Gletsch abgenommen.
5.
Ideell sind die landschaftlichen Veränderungen im Schweizer Alpenraum verbunden mit dem Verblassen des hallerschen,
rousseauschen, romantischen und viktorianischen
reisekulturgeschichtlichen Topos der Schweizerfahrt oder Swiss tourbei teilweise sehr anspruchsvollen Gästen.
6.
Die Verhundert- bis Verzweihundertfachung des Durchgangsverkehrs
unmittelbar vor dem Hotel beeinträchtigt den Genusswert eines
Aufenthalts erheblich, zumal wegen der Abgase und des Motorenlärms.
Mit
der Einstellung des Zugverkehrs auf der Bergstrecke, die über Gletsch führt, hat die Aufgabe des Hotelbetriebs sehr wenig bis
nichts zu tun. In den 1980er Jahren reisten schätzungsweise 95% der Gäste mit dem
privaten Automobil, Reisebus oder Postauto an, nur
noch 5% mit dem Zug; von diesen 5% benutzte nach dem Ende des
Zugbetriebs die Mehrheit andere
Verkehrsmittel, um nach Gletsch zu gelangen.
Das Ende des Eisenbahnverkehrs brachte vor allem
logistische Probleme des Personal- und Warentransports mit sich, die ohne
grossen Aufwand zu bewältigen waren. Auf die Gästefrequenz wirkte es sich, wie dies der Verwaltungsrat der Immobilien Gletsch AG bereits zwei Jahrzehnte vor der Einstellung des Verkehrs vorhergesehen hatte (vg. oben C. III. 2.), kaum aus.
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IV. Zur Defunktionalisierung der Hotelsiedlung
Welche Orte kann man sich vergegenwärtigen oder besuchen, um die
Defunktionalisierung der Transitstation Gletsch als verkehrshistorisches
Phänomen in einem länderübergreifenden Kontext besser zu verstehen?
Beispielsweise
das Hospiz auf dem Grossen St.
Bernhard (Transitstation der Passwanderer), den Hof des
Stockalperpalastes in Brig (T. der Maultierkarawanen), die
Karawansereien des 17. und 18. Jahrhunderts in der
Altstadt von Kairo (T. der Kamelkarawanen), den alten Hafen von Valetta
(Grand Harbour) auf Malta (T. der Galeeren, Segel- und Dampfschiffe),
den Hafen von Mindelo auf der Kapverdischen Insel São Vicente (T. der Dampfschiffe).
Die
Hotelsiedlung Gletsch war seit den 1860er Jahren in erster Linie eine
Transitstation des alpinen Kutschenverkehrs. Die vergleichshalber genannten Transitstationen verdeutlichen den engen
Zusammenhang zwischen verkehrstechnischem Wandel und Schicksal der
Transitstationen.
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* * *
D. Zu Unternehmensstrategien, -kommunikation und -entwicklungen
1.
Hermann
Seiler stand seit Beginn der 1920er Jahre als Generaldirektor an der
Spitze der Zermatter Hotelgesellschaft, die in der Zwischenkriegszeit sieben (bzw. zeitweise acht) Hotels mit
insgesamt ungefähr 1000 Gastbetten umfasste. Sind für dieses Jahrzehnt distinkte
Unternehmensstrategien für die Betriebe in Zermatt und Gletsch
auszumachen?
Die
Tätigkeit in Zermatt war vornehmlich von drei Zielen bestimmt: Sanierung des durch
den Weltkrieg stark mitgenommenen Unternehmens, möglichst weitgehende Erneuerung der
baulichen Substanz in der kurzen konjunkturellen Aufhellung zwischen
1925 und 1931, Lancierung und
Etablierung der Wintersaison (vgl. unten D. 2.).
Da
bereits damals in Gletsch die Amortisation umfangreicher baulicher
Erneuerungen im Hotel wie des Einbaus einer grossen Zahl von
Badezimmern in Anbetracht der strikten Beschränkung des Betriebs auf eine kurze Sommersaison auf der Grundlage präziser
betriebswirtschaftlicher
Berechnungen als prekär erkannt wurde, gab Hermann Seiler Ende der
1920er Jahre an diesem Ort mit der elektrizitätswirtschaftlichen Nutzung des
Sidel- und Maienbachs und später der des Totensees der
nichtgastgewerblichen Mise en valeur den Vorrang.
So
schuf der
Finanzmann nach dem Ende des ‚Goldenen Zeitalters‘ der
Schweizer Hotellerie auf der Grundlage der vorhandenen immobiliaren
Ressourcen eine nachhaltige zwölfmonatige Umwegrentabilität, welche den
Fortbestand des auf eine dreieinhalb- bis viermonatige jährliche
Wertschöpfungsphase beschränkten Hotelbetriebes in der
tradierten anspruchsvollen Art der Belle Epoque bis in die 1980er Jahre
wesentlich mitermöglichte, indem die zusätzlich generierten
finanziellen Mittel
in diesen einflossen (richtig: Weltwoche vom 6. Dezember 1984, Nr. 49,
S. 55).
Die
Erträge aus den Nebenbetrieben dienten der Fortführung der gastgewerblichen Betriebe und damit in erster Linie der
branchenüblichen (und besseren) Entlöhnung Mitarbeitender - zumal
solcher, die nicht zum sogenannten trinkgeldberechtigten Personal
gehörten.
Die
Subventionierung des strukturbedingt renditeschwachen gastgewerblichen Kerngeschäfts durch
renditestärkere nichtgastgewerbliche Nebenbetriebe gilt heute im Schweizer Gastgewerbe
als in hohem Masse wünschbares Geschäftsmodell (vgl. z.B.
Handelszeitung vom 6. bis 12. Juni 2007, Nr. 23, S. 12; Thomas
Allemann, Leiter
Wirtschaftspolitik bei Hotelleriesuisse, in: Immobilienmagazin
Bilanz Homes vom 9. November 2007 bis 6. März 2008, Nr. 4, S. 18 über
die zunehmende
Bedeutung der Umwegrentabilität und ‚hybrider‘ Hotels). Auch insofern
leistete Hermann Seiler hotelunternehmerische Pionierarbeit.
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2.
Im Dezember 1927 lancierte Hermann Seiler die erste Zermatter
Wintersaison. [ Ausführliche Darstellung] Ist die Entscheidfindung und Beschlussfassung im Verwaltungsrat der Seiler
Hotels Zermatt AG dokumentiert?
Franz
Seiler, promovierter Jurist, 1921-1925 Grossrat, 1926-1946 Direktor der
Schweizerischen Hotel-Treuhand-Gesellschaft, 1921-1938 Mitglied des
Verwaltungsrates der
Zermatter
Hotelgesellschaft, 1943-1966 Nachfolger seines Onkels Hermann an deren
Spitze wie auch 1945-1965 als Zentralpräsident des Schweizer
Hoteliervereins, schrieb im Nachruf vom 29. August 1964:
„Doch
kamen [Hermann Seiler] nun [nachdem er 1920 auf sein Regierungsamt
verzichtet und die Nachfolge seines Bruders Alexander als Generaldirektor der
Zermatter Hotelgesellschaft angetreten hatte] seine von tiefer
Verstandes- und Charakterbildung getragenen Fähigkeiten als Organisator
und Administrator auch in der obersten Leitung unseres
privatwirtschaftlichen Unternehmens in hohem Masse zustatten. Mit
eiserner, zäher Energie und mit bewundernswerter Schaffenskraft
steuerte er die Seiler Hotels durch die Klippen der in den Jahren
1920-24 abflauenden Nachkriegskrise in die anschliessende
Konjunkturhausse der Jahre 1925-31, einer Periode des Aufschwungs, die
es ihm ermöglichte, nachzuholende Erneuerungen und Modernisierungen in
verschiedenen Hotels so weit als möglich durchzuführen - man denke nur
an die Einrichtung des fliessenden Wassers - und darüber hinaus im
Jahre 1927 seine Lieblingsidee zu verwirklichen, nämlich die Eröffnung
der ersten Wintersaison in Zermatt.
[D]as Risiko der winterlichen
Ersteröffnung unserer Hotels Victoria und Mont Cervin sowie des damals
noch zum Komplex der Seiler Hotels gehörenden Hotels Beau-Site [...]
war umso grösser, als zu jener Zeit hinsichtlich der Organisation eines
geordneten Wintersports das meiste geradezu improvisiert werden musste.
Die bedeutenden Opfer, die mit dieser Pionierleistung des Verstorbenen
verbunden waren, hätten sich zweifelsohne schon bald gelohnt, wäre
nicht im Jahre 1931 eine neue, schwere und nicht enden wollende
Weltwirtschaftskrise hereingebrochen, gefolgt vom 2. Weltkrieg mit
seinen katastrophalen Auswirkungen.
Infolgedessen konnte die Frucht der kühnen Tat von Dr. Hermann Seiler,
der sich in seiner Initiative auf die einmütige Zustimmung des
damaligen Verwaltungsrates stützen konnte, erst viel später aufgehen,
dann aber allerdings, wie die Entwicklung seit einigen Jahren zeigt, in
ungeahnter Fülle.
Er
war es gewesen, der den Bann gebrochen und damit den Weg zur Entfaltung
der unvergleichlichen Möglichkeiten, die Zermatt im Winter bietet,
gewiesen hatte, zusammen mit einigen treuen Zermatter Freunden, unter
denen hier nur der unvergessliche Bergführer und internationale
Skimeister Otto Furrer genannt sei. Für seine bahnbrechende Tat
schuldet Zermatt Dr. Hermann Seiler bleibenden Dank.“
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3. Gab es einen kausalen Zusammenhang zwischen der investorischen Zurückhaltung
der Immobilien Gletsch AG im gastgewerblichen Bereich und der Planung
eines Stausees?
Die
investorische Zurückhaltung stand in einem Kausalzusammenhang mit den unter C. III. 3. genannten Gründen 1.-6. (vgl. die Zitierung der
Geschäftsführerin in der Weltwoche
vom 6. Dezember 1984, Nr. 49, S. 55: „Geben Sie uns
eine
Wintersaison [...], dann machen wir weiter.“). In den 1960er
Jahren
erwies es sich nach dem Neubau des Speisesaals des Hotels Belvédère
schliesslich auch empirisch sehr deutlich, dass etwas umfangreichere Investitionen in der kurzen
Sommersaison und angesichts des touristischen Wandels kaum zu
amortisieren waren.
Vgl.
Werner
Kämpfen, Direktor der Schweizerischen Verkehrszentrale (Schweiz
Tourismus) in Zürich von 1960 bis 1979, Leiter des Touristikkomitees der OECD und später
Verwaltungsratspräsident der Schweizerischen PTT, im Zusammenhang der
Lancierung des Zermatter Sportwinters durch Hermann Seiler im Dezember
1927: „Nach den schweren Krisenjahren [während und nach dem Ersten
Weltkrieg], die den Tourismus und die Hotellerie lahmlegten, war für
Dr. Hermann Seiler, später ebenfalls [wie sein Bruder Alexander]
Nationalrat und [zudem 17 Jahre lang] Zentralpräsident des Schweizer
Hoteliervereins, aber auch für seinen nationalökonomisch geschulten
Sohn Edi [Eduard] eines klar [sic!]: in Zukunft konnte unsere Hotellerie nicht
bloss von zwei [bis vier] Monaten leben, die Ergänzung durch eine
Wintersaison drängte sich wirtschaftlich [...] auf.“ (Walliser Bote vom
3. August 1976, Nr. 178, S. 3.) Vgl. *] .
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4. Was für Angaben gab es über die Erträge aus den Nebenbetrieben?
Otto
Frei, Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung in der Westschweiz und in
Gletsch häufig zu Gast, schrieb am 31. August 1978 (Nr. 201, S. 30) in der gleichen
Zeitung zutreffend: „So imponierend er [der Besitz] von der
Fläche her anmutet, so wenig wirft er wirtschaftlich ab, handelt es
sich doch um nichtkultivierbaren [kursiv hervorgehoben durch die Zeitung] Grund.“
Ferdinand
Kreuzer, zwei Jahrzehnte Professor für Physiologie an der Universität
Nijmegen, formulierte in seinem Standardwerk über das Goms (Geschichte des Landes um die Furka, Kleve 1982, S. 99): „Der grösste Teil des Besitzes der Familie Seiler ist unproduktives Land“.
Beide Sätze beruhten auf
seinerzeit gemachten Darlegungen von Mitgliedern der Familie Seiler und waren
vollkommen korrekt.
Im Walliser Boten vom 5. Juni 1984 (Nr. 130, S. 6) ist
eine Zusammenfassung des vom
Finanzdepartement aus Anlass der parlamentarischen Beratung des
Kaufgeschäfts erstellten Inventars publiziert. Dem ist unseres Wissens nichts beizufügen.
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5. Wurde in Gletsch Entwicklung verpasst?
In
Gletsch wurde mit Sicherheit nicht Entwicklung verpasst. Die negativen
Gründe sind die selben wie jene für die Betriebsaufgabe (vgl. oben C. III. 3.), zumal es sich um extrinsische handelt.
Mit der Lancierung der Wintersaison in Zermatt im Jahre 1927 durch
Hermann Seiler (vgl. oben D. 2.),
deren fortschreitender Etablierung bis zum Zweiten Weltkrieg, dem Aufbau
von Unternehmen
in Bern seit
Beginn der 1940er Jahre und in Küsnacht am Zürichsee seit 1949 (zur
Qualität des dort im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts Gebotenen
z.B. Fielding's Travel Guide to Europe, New York 1956/7, S. 763: „In
Zurich, top honors go to Seiler's Ermitage — one of the 2 greatest
restaurants of Switzerland. Lovely lakeside country-house situation at
Kusnacht-Zurich ...“ und Neue Zürcher
Zeitung vom 9. November 1971, Nr. 522, S. 24: „Nach einem Besuch im
Ermitage wird man kaum zurückhaltend sein im Lob ...“),
der
massgeblichen Beteiligung
von Eduard Seiler als Vizepräsident und Verwaltungsratsdelegiertem an
den Planungs- und Erneuerungsarbeiten der Zermatter Gesellschaft in den
1960er und 1970er Jahren (vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung vom 1./2.
Februar 1975, Nr. 26, S. 34) wurde dort hotelunternehmerisch
entwickelt, wo
nach dem Ersten Weltkrieg Kapitalallokation sinnvoll war, an Orten ohne
in absehbarer Zeit nicht zu durchbrechende Beschränkung auf eine
dreieinhalb- bis viermonatige gastgewerbliche Wertschöpfungsphase und
ohne
sukzessive verkehrstechnisch, natürlich und reisekulturell bedingte
touristische Defunktionalisierung.
Die struktur- und lagebedingte Renditeschwäche eines Geschäftsmodells und Betriebes frühzeitig zu erkennen und nicht da zu investieren, sondern in auf der Grundlage von Elementen
dieses Geschäftsmodells neu aufgebaute oder weiterentwickelte
renditestärkere Betriebe ist ein Grundsatz unternehmerischen Handelns.
Vgl. zur allgemeinen Auffassung unternehmerischer Tätigkeit (und zu
deren notwendiger Fortschrittsorientiertheit) aus der Sicht der Familie
Seiler z.B. die mit Blick auf die Nachkriegszeit verfasste Gesamtschau
der Schweizer Wirtschaft von Eduard Seiler: Das Schweizervolk und seine Wirtschaft (unter Mitwirkung von Gustav Erhard, Marcel Gauchat, Luzius Simon und Max Zahner), Zürich 1944.
Die
Annahme, in Gletsch sei Entwicklung verpasst worden, ist ähnlich
geistvoll, wie es ein an die Familie Stockalper gerichteter Vorwurf
wäre, dass der Hof des Stockalperpalastes in Brig im Jahre 2009 nicht
mehr wie im 17. Jahrhundert Maultierkarawanen, welche den
italienisch-französischen Warenverkehr über den Simplon besorgen,
pittoresk als Umschlagplatz diene, oder die Forderung, der Palasthof
müsste mindestens, in Fortbildung seiner ursprünglichen Funktion, als
nächtlicher Parkplatz des internationalen Lastkraftwagenverkehrs
benutzt werden.
Die
Hotelsiedlung Gletsch ist heute infolge dessen, was allgemein als
Fortschritt bezeichnet wird, im Wesentlichen eine denkmalschützerische
Problemstellung und auch insofern (ausser hinsichtlich der
Transitstationsfunktion des Gebäudekomplexes und der Lage am Fusse der
Pässe) mit dem ebenfalls durch den verkehrstechnischen Wandel
defunktionalisierten Stockalperpalast vergleichbar.
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6. Welche Optionen gab es für die Gebäulichkeiten in Gletsch nach 1984 im Falle der Nichtverwirklichung des Stauseeprojekts?
Unter
den Aktionären und im Verwaltungsrat wurden folgende Optionen
diskutiert: 1. Umgestaltung des Haupthauses zu einem Haus für
Naturfreunde; 2. Nutzung als Museum (naturkundlicher und/oder
touristischer Art), kombiniert mit einem einfachen gastronomischen
Betrieb; 3. Abbruch des Gebäudekomplexes durch das Militär als
Übungsobjekt.
Wäre
das
Stauseeprojekt verwirklicht worden, hätte sich die Wahl einer der
genannten Möglichkeiten erübrigt. Der Entscheid für eine der
Alternativen war auch aufgrund denkmalschützerischer Güterabwägung zu
treffen - aber
im Bewusstsein, dass Denkmalschutz defunktionalisierter Objekte
notwendig seinen Preis hat.
Die
Option, unter erheblichem finanziellem Aufwand an den Betrieb
anzuknüpfen, wie er bis 1984 bestand, beurteilte man wegen des
mannigfachen und irreversiblen Wandels seit der Belle Epoque
(vgl. oben C. III. 3.) als wenig erfolgversprechend.
Die auf Analyse und Empirie beruhende Einschätzung, grosse
Investitionen könnten nicht verzinst geschweige denn amortisiert werden, widerlegte der Gang der Dinge nicht.
Anschlussfrage D. 11.
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7. Wie haben sich andere Hotels an der Furkapassstrasse seit dem Ersten Weltkrieg entwickelt?
Der
hotelbetriebswirtschaftliche Wandel, die Motorisierung des
Verkehrsmittels und die Vervielfachung der Reisegeschwindigkeit, die
zunehmende Beeinträchtigung der Landschaft durch den Ausbau der
Strassen, das damit einhergehende Verblassen des
reisekulturgeschichtlichen Topos der Swiss tour oder
Schweizerfahrt zu Gunsten eines Tourismus der attraktivsten
Destinationen, die im Verhältnis zum Wintertourismus abnehmende
Bedeutung des Schweizer Sommertourismus vor dem Hintergrund der steten
Zunahme von gut erschlossenen Sommerreisezielen ausserhalb der Schweiz
schlugen sich auch im Schicksal der beiden Passhotels de la Furca und
des benachbarten Furkablick nieder: dieses wurde 1982 vom Militär
abgerissen, jenes konnte bis
in die 1980er Jahre als Gastbetrieb fortbestehen. 1986 kaufte es ein Neuenburger Galerist, dessen
eher künstlerisches als gastgewerbliches Projekt ‚FurkArt‘ jedoch nach
der Jahrtausendwende als erlahmt galt (vgl. Roland Flückiger: Hotels am Rhonegletscher – Hotelträume und Hotelpaläste der Belle Époque, in: Die Alpen, Zeitschrift des Schweizer Alpen-Clubs, 2003, Nr. 12, S. 48 ff.).
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8. Wie ist die Entwicklung in Gletsch im Verhältnis zu jener der Zermatter Gesellschaft zu sehen?
Das
Zermatter Schwesterunternehmen leitete in der ersten Hälfte der 1980er Jahre eine entgegengesetzte
gastgewerbliche Expansionsbewegung ein. Bei Sitten wurde ein Restaurant und bei Martigny
ein Hotel mit Restaurants lanciert. Diesen Betrieben war kein durchschlagender Erfolg
beschieden (vgl. Roberto Seiler, Präsident der Seiler Hotels Zermatt AG, in: Den Gästen Gutes tun, 150 Jahre Seiler Hotels Zermatt, Zürich 2004, S. 49). Um die
Jahrtausendwende beschloss der Verwaltungsrat die Betriebsaufgabe, es erfolgte eine Konzentration auf die immobiliare Mise en valeur in Zermatt.
In
den 1990er Jahren konnte nach einer Planungszeit, die bis in die 1960er und 1970er Jahre zurückreicht, mit
hauptsächlicher Beteiligung der Sandoz Stiftung ein neues Hotel auf der
Riffelalp verwirklicht werden. Die Seiler Hotels AG brachte im
Wesentlichen das Grundstück in die neue Gesellschaft ein und war in der Folge Minderheitsaktionärin. Die
Liquidation der minoritären Beteiligung erlaubte die grossen
Erneuerungsarbeiten im Hotel Mont Cervin aus Anlass des 150jährigen Jubiläums.
Im
Jahre 2005 erfolgte mit dem Übergang von 36% des Aktienkapitals der
Seiler Hotels AG an die Jelmoli Holding AG ein weiterer Schritt hin zu
einer nichtgastgewerblichen immobiliaren Ausrichtung, welche die
Aufgabe der eigenständigen Betriebsführung im Hotel Nicoletta im
folgenden Jahr ergänzte. Bis im November 2007 erhöhte sich dieser Anteil auf mehr als 80%.
Bereits
zu Beginn der 1960er Jahre wurden nach der Zerstörung des Hotels Riffelalp
durch einen Brand die Vergütungen der Versicherung nicht auf den sofortigen Wiederaufbau
dieses Hotels, sondern auf die Substanzerneuerung der anderen Häuser, zumal des Mont Cervin, verwendet. Ende der 1960er Jahre
diente der Verkauf der Liegenschaft des Hotels Victoria gegenüber dem
Bahnhof, die seitdem grösstenteils nichtgastgewerblich genutzt wird,
dringenden Modernisierungen im Monte Rosa und dem Bau des
ersten Hotelhallenbades.
Die
in Gletsch in den 1920er Jahren mit der elektrizitätswirtschaftlichen Nutzung des Maien- und
Sidelbaches und später des Totensees eingeleitete nichtgastgewerbliche Mise en valeur des
vor dem Ersten Weltkrieg von der Hotelgesellschaft erworbenen
Immobilienbestandes wurde so schrittweise nachvollzogen - mit einer
Verzögerung von rund drei Jahrzehnten, die sich hauptsächlich der Möglichkeit einer
Wintersaison in Zermatt verdankt (vgl. im historischen Abriss das
Kapitel ‚Hotelunternehmerische Problemstellung‘ C.) .
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9. Wie hat sich das Zermatter Unternehmen seit der Zwischenkriegszeit entwickelt?
Unter
der Generaldirektion Hermann Seilers in den 1920er und 1930er Jahren
konnten mit über 1000
Hotelbetten in den sieben bzw. acht Häusern Monte Rosa (120 - 150 Betten), Mont Cervin
(230 - 300 B.),
Riffelalp (240 - 300 B.), Victoria (180 - 200 B.), Schwarzsee (30 B.), de la Gare
(30 B.), Beau Site (120 - 150 B.) und (zeitweise, als Dependance des Hotels Monte Rosa) des Alpes (70 B.) bei einem
Angebot von
in Zermatt und Umgebung gesamthaft knapp 1800 vom Hotelierverein homologierten Gastbetten mehr als die Hälfte von
den Seiler Hotels abgedeckt
werden. [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt in den früheren 1920er Jahren] Anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die pachtweise
geführten Hotels Zermatterhof und Riffelberg (Meldung der Verlängerung des Pachtvertrages durch die Gemeinde in der Neue Zürcher
Zeitung vom 15. Oktober 1894, Nr. 286, S. 1) [ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt vor 1904] standen die grossen Belle
Epoque-Häuser Victoria und Beau Site in der Zwischenkriegszeit im
Eigentum der Gesellschaft und waren entsprechend aufwendiger zu
bewirtschaften. Das Aktionariat setzte sich ausschliesslich aus
Familienmitgliedern zusammen.
Mitte
der 1960er Jahre, als nach dem Tode Franz Seilers dessen Bruder
Theodore E. die Verantwortung für die Hotelgesellschaft übernahm,
wurden in Zermatt gemäss Hotelführer des Hoteliervereins rund 3500 Hotelbetten angeboten, davon mit 500
noch ungefähr 14% in Seiler Hotels. Vier Jahrzehnte später, im Jahre
2007, umfasste das Angebot im Matterhorndorf insgesamt 6400
Hotelbetten, hiervon etwas mehr als 10% in Seiler Hotels. Weitere fast
6000 heute in Zermatt zur Verfügung stehende Gastbetten sind der
Parahotellerie zuzuordnen, einem Angebotssegment, das vor dem Zweiten
Weltkrieg von geringer Bedeutung war.
Ende
der
1920er
Jahre, ein knappes Jahrzehnt nach der Übernahme der
Generaldirektion durch Hermann Seiler, erreichte das Zermatter
Unternehmen erstmals einen
Jahresumsatz von mehr als 2 Mio. Fr., inflationsbereinigt nach heutigem
Geldwert etwa 13 Mio. Fr. Die Einnahmenüberschüsse der Jahre 1928 und
1929 betrugen 351'000 Fr. bzw. 329'000 Fr., nach aktuellem Geldwert
ungefähr 2, 3
Mio Fr. bzw. 2, 1 Mio Fr. (vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung vom 7. Juni
1930, Nr. 1117, Blatt 1; für die Jahre 1925 und 1926 Neue Zürcher
Zeitung vom 3. Juli 1927, Nr. 1121, Blatt 5).
Stellt man in Rechnung, dass die
Wintersaison damals von
Hermann Seiler zwar initiiert war (vgl. oben D. 2.),
aber mit etwa 7600 Logiernächten im Jahre 1929 (dem Spitzenjahr der
Zwischenkriegszeit hinsichtlich der Gesamtzahl an Logiernächten),
folglich 4, 9% von im Gesamtjahr total 159'900, noch eher geringe
Umsatzrelevanz hatte, indes im Halbjahr 2006/07 mehr als hundertmal
soviel, insgesamt 773'600, und anteilsmässig 3/5 der Zermatter
Übernachtungen während der Wintersaison generiert werden, die Seiler
Hotels Zermatt AG im Geschäftsjahr 2006/07 sogar 79, 2% des
Gesamtumsatzes im Winterhalbjahr erwirtschaftet, ergibt sich für die
Jahre vor der Pfundabwertung und dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise
1931 ein zu vergleichender inflationsbereinigter hypothetischer
Jahresumsatz weit über 30 Mio. Fr.
Nach
der Jahrtausendwende, acht Jahrzehnte später, weist die gleiche
Gesellschaft gastgewerbliche Umsätze bis knapp 30 Mio. Fr. (29,
15 Mio. Fr. im Jahre 2006/07) aus.
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10.
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verkaufte die Familie Eduard
Seiler das Hotel und Restaurant Ermitage in Küsnacht. Weshalb?
Die
Sitzzahl im Innern des Restaurants und die Bettenzahl des Hotels waren
wegen der lagebedingten baureglementarischen Beschränkung der
Ausnützungziffer kaum zu erhöhen. Auch hier zeichnete sich, bei einem
Mitarbeitendenbedarf von mindestens 50 Personen, mittel- und
langfristig eine aporetische Zuspitzung der Festkostenproblematik ab.
Das Haus wurde 2004 ganz von einer Unternehmerfamilie übernommen, die
zu den vermögendsten Deutschlands zählt. Ein Jahr später teilte der
Verwaltungsrat mit, man habe erkennen müssen, dass das
Vier-Sterne-Hotel mit nur 25 Zimmern trotz exklusiver Lage nicht mehr
rentabel hätte betrieben werden können (Allgemeine Hotel- und
Gastronomie-Zeitung, 2005, Nr. 22, S. 12). Einen zweiten und dritten
Grund für den Verkauf bildeten der in den 1970er Jahren geplante
öffentliche Uferweg und der Unfalltod Eduard Seilers im Frühjahr 1976.
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11. Welche zusätzlichen Optionen gibt es heute für das Hotel Glacier du Rhône?
Der
erfolgreiche Wiederaufbau der Furka-Bergstrecke und die Wiederaufnahme
des Dampfbahnbetriebs zwischen Realp und Gletsch hat in unmittelbarer
Nähe sehr eindrücklich gezeigt, wie viel nichtgewinnorientierte
Organisationen bei der Restitution von durch den verkehrstechnischen
Fortschritt ihrer ursprünglichen Funktion beraubten, aber
verkehrshistorisch wertvollen Objekten zu leisten vermögen. In England
widmet sich der National Trust Wiederherstellung und Erhalt historisch bedeutender Gebäude. Einige Bauten werden gastgewerblich genutzt und sind Teil einer Historic House Hotels Collection.
Eine denkbare Option für die weitgehend defunktionalisierte
Hotelsiedlung Gletsch insgesamt wäre ein denkmalschützerischer Ansatz,
der entschieden auf einer nichtgewinnorientierten Zielsetzung und einer
organisatorischen Grundlegung aufbaute, die teils zu jener der
Dampfbahn und teils zu der des National Trust analog wären und in engem Zusammenwirken mit ersterer verwirklicht würden.
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* * *
E. Biografisches
1. Welches war das Tätigkeitsfeld von Hermann Seiler, seit den 1920er Jahren Eigentümer der Betriebe von Gletsch?
Hermann
Seiler hatte in Paris, Berlin und Bern Rechtswissenschaft studiert.
Der promovierte Jurist und Notar wirkte von 1904 an als Stadtpräsident von Brig. 1905-1910 und 1921-1929 war er Grossrat. Im
Februar 1910
wurde er in einer „denkwürdigen“ (Walliser Volksfreund vom 18. April
1985, Nr. 88, S. 5)
Wahl mit 94 von 101 abgegebenen Parlamentarierstimmen
in die Kantonsregierung gewählt (ausführlich zur Wahl der „junge[n], tüchtige[n] Kraft“: Neue
Zürcher Zeitung vom 26. Februar 1910, Nr. 56, S. 2). Ein Jahrzehnt lang stand
er als
Staatsrat dem Finanzdepartement vor - (im Urteil der Neuen Zürcher Zeitung vom
21. August 1961, Nr. 3055, S. 9) „mit Auszeichnung“; zweimal war er Regierungspräsident.
Nach
dem Tode seines Bruders Alexander anfangs März 1920 sah er sich
veranlasst, die
Verantwortung für das Zermatter Hotelunternehmen zu übernehmen.
[ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt in den früheren 1920er Jahren]
Bis
1925 wirkte er als Nationalrat, seit 1922 war er Mitglied des
Zentralvorstandes des Schweizer Hoteliervereins (Meldung der Wahl in
der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. Juni 1922, Nr. 779, S. 2), seit 1925
Vizepräsident und von 1927 an (aus der Warte der Neuen Zürcher
Zeitung
vom 10. September 1930, Nr. 1746, Blatt 4) „hochgeschätzter“
Zentralpräsident
des Schweizer Hoteliervereins, der sein Amt (gemäss Wortlaut der Neuen
Zürcher
Zeitung vom 10. Juni 1945, Nr. 909, S. 10) „mit der ganzen Umsicht,
Tatkraft
und Überlegenheit einer für einen solchen Posten in ungewöhnlichem
Masse befähigten Persönlichkeit führte“, „das Vereinsschiff durch die
sturmbewegten dreissiger Jahre hindurchsteuerte und seinen ganzen
Einfluss daran setzte, dass die Hotellerie die schwere Krisenzeit
durchzustehen vermochte“ (Neue Zürcher Zeitung vom 21. August 1961, Nr.
3055, Blatt 9), und so in der Krisen- und
Kriegszeit (aus der Sicht der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. August
1961, Nr. 3085,
Blatt 5) „wesentlich zur Sanierung des gesamten Gastgewerbes“ beitrug.
Anlässlich
des Rücktritts als Zentralpräsident des Schweizer Hoteliervereins im
Sommer 1945 hoben Mitglieder des Zentralvorstandes im Zusammenhang der
Leistungen für den ganzen Berufszweig hervor: „[D]ie grösste und
bleibendste Errungenschaft, auf die Herr Dr. H. Seiler zurückblicken
kann, ist die Eingliederung der schweiz. Hotellerie in die nationale
Volkswirtschaft. Er hat es durchgesetzt, dass unsere Hotellerie von den
Bundesbehörden als ein Bestandteil des Wirtschaftslebens unseres Landes
anerkannt und gewürdigt wird.“ (Schweizer Hotel-Revue vom 14. Juni
1945, Nr. 24, S. 1 ff.)
Im Frühling 1929 wählten etwa 300
Delegierte aus 18 Staaten Seiler in Rom „einstimmig“ und „unter stürmischem Beifall“ (Neue
Zürcher Zeitung vom 30. Mai 1929, Nr. 1036, Blatt 1) zum
Präsidenten des Dachverbandes der 18 weltweit wichtigsten nationalen Hoteliervereine, der Alliance internationale de l’ hôtellerie. Nach Ende seiner Präsidentschaft wurde er zum Ehrenpräsidenten auf Lebzeiten ernannt.
Als Vizepräsident des Schweizerischen Fremdenverkehrsverbandes
und der Schweizerischen Verkehrszentrale hat er (gemäss Wortlaut der Neuen
Zürcher Zeitung vom 21. August 1961, Nr. 3055, Blatt 9) „sowohl auf
fremdenverkehrspolitischem wie auf dem Gebiet der Verkehrswerbung
massgeblich an der Lösung der damals schwebenden Probleme mitgewirkt“.
Die Landesregierung berief ihn in den Verwaltungsrat der
Schweizerischen Bundesbahnen (Meldung der Wahl in der Neuen Zürcher
Zeitung vom 6. März 1928, Nr. 407, Blatt 1) und ihn den Bankrat (das Aufsichtsorgan) der Schweizerischen Nationalbank, er war Verwaltungsrat der
Bern-Lötschberg-Simplon Bahn, Mitglied der Schweizerischen
Handelskammer (des erweiterten Vorstandes des Schweizerischen Handels-
und Industrievereins) und Kommandant eines Infanterieregiments.
Die Basler Nachrichten vom 5./6. Mai 1956 (1. Beilage zu Nr. 189, Seite 2, linke Spalte Mitte) urteilten in ihrer Geburtstagsadresse über den 80jährigen: „[E]r gehört zu jenen initiativen, zielbewussten und kultivierten Unternehmern, welche die schweizerische Wirtschaft auf ihre heutige Höhe gebracht haben.“
Das
Tagesgeschäft in Gletsch wurde nicht von ihm, sondern von seinen
Geschwistern Joseph und Katharina und, nach dem Hinschied des ersteren
im Jahre 1929, seinem Sohn Eduard
geführt, jenes in Zermatt ebenfalls während seiner Generaldirektion bis 1943 vornehmlich von Mitgliedern der zahlreichen
Familie (ausführliche Hinweise bei Fred Ammann: Schweizer Gastgeberfamilie, Folgeheft 14, Biel 1980). Seit Beginn der 1960er Jahre war in Gletsch dafür Rosemarie
Seiler
zuständig, bis 1976 zusammen mit Eduard Seiler.
Auf
die hochdisziplinierte Arbeitshaltung und Tagesgestaltung Hermann
Seilers und seiner Ehefrau, welche vom Umfang der oben dargetanen Arbeitslast
geprägt war,
wies der Walliser
Bote (vom 6. September 1955, Nr. 71, S. 1) mit Bezug auf die Zeit der
Zermatter Generaldirektion
zwischen 1920
und 1943 andeutungsweise hin: „[S]ie
[Elisabeth
Seiler-Cattani]
und ihr Gatte [waren] am Morgen [vor den 600 bis 700 Mitarbeitenden
der
Zermatter Hotelgesellschaft] die ersten.“
Der
Unternehmensverantwortliche und Vater von 13 Kindern bezog in den
1930er Jahren einen
Monatslohn von 1700 Fr. (nach heutigem Geldwert ungefähr 10'000 Fr.).
Die meisten obgenannten Tätigkeiten waren entweder ehrenamtlich oder
eher symbolisch entlöhnt. Infolge der Weltwirtschaftskrise wurden von
der Zermatter Hotelgesellschaft seit
1931 keine Aktiendividenden
ausgeschüttet (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 8. Mai 1942, Nr. 727, S. 3).
Vita Dr. Hermann Seiler i.d. FS d. Schweizerischen Fremdenverkehrsverbandes
zur Tätigkeit als Zentralpräsident der Schweizerischen Hoteliervereins insbesondere
weiterführende Literatur
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2. War Hermann Seiler Hotelier?
Der jüngste Sohn Alexander des Älteren war promovierter Jurist wie sein Bruder und Vorgänger als
Verantwortlicher des Zermatter Unternehmens, Alexander der Jüngere, und
sein Neffe und Nachfolger, Franz. Auf letzteren folgte in Zermatt
dessen Bruder Theodore E., der Bankfachmann - zuletzt
Generaldirektor und Verwaltungsrat des Schweizerischen Bankvereins sowie anderer Banken und namhafter Firmen - war und sich in
weitreichender Kenntnis der Leistungen seines Onkels Hermann als
Vorsteher des Walliser Finanzdepartements und Verwaltungsrat
öffentlicher und privatwirtschaftlicher Unternehmen seinerseits mitunter als
„zweiter Finanzmann an der Spitze der Hotelgesellschaft“
bezeichnete.
Die
hotelfachlichen Kenntnisse und Erfahrungen aller Genannten beruhten
darauf, dass sie seit früher Kindheit mit dem Hotelgeschäft in enger
Berührung standen, nicht auf einer beruflichen Hotelfachausbildung. Der
Firmengründer, Alexander der Ältere, war fast ausschliesslich
Autodidakt.
* * *
Hermann Seiler im Jahre 1908 als Leiter des Hotels Riffelalp mit Mitarbeitenden.
* * *
In
jenem
Jahrfünft zählten der belgische Thronerbe, seit 1909 König Albert I.,
(2. v. rechts) und seine Gemahlin (links im Hintergrund) zu den
wiederkehrenden Gästen des Hauses. (Aufnahme von
1908.)
* * *
Francisca
Duarte, Herzogin von Bragança und portugiesische Thronprätendentin,
während einer ihrer sechs Sommerfrischen in Gletsch. (Aufnahme zwischen 1938 und 1944.)
* * *
Der Rechtsanwalt und Notar
führte zwischen 1906 und 1910, während er das Amt des Briger
Stadtpräsidenten versah, in der Sommersaison als Direktor das Hotel
Riffelalp, das damals in voller Blüte stand und anspruchsvollste
Stammgäste anzog wie etwa das belgische Königspaar. Die Fürstin von
Liechtenstein und Erzherzogin von Österreich, die portugiesischen Thronprätendenten, die Herzöge von Bragança
und von Bourbon, und die Infantinnen von Portugal gaben in den 1930er und
1940er Jahren dem Hotel Glacier du Rhône, Hermann Seilers
Privatbetrieb, regelmässig vor allen anderen Schweizer Hotels den Vorzug als Haus für ihre
mehrwöchige Sommerfrische.
Die
Hotels des Zermatter Unternehmens unter der gleichen Oberleitung
[ Prospekt der Hotels Seiler Zermatt in den früheren 1920er Jahren] frequentierten
in der Zwischenkriegszeit beispielsweise die Zaren Ferdinand von
Bulgarien (in Wiederholung eines fünf Jahrzehnte zurückliegenden
Besuchs: vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 18. August 1933, Nr. 1488, S. 2)
und (bereits in
den 1920er Jahren) dessen
Nachfolger Boris von Bulgarien,
Königin Wilhelmina
der Niederlande (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 3. Juli 1925, Nr. 1048,
S. 2), die Prinzen
Peter von Griechenland und Chichibu von Japan (vgl. Neue Zürcher
Zeitung vom 3. September 1926, Nr. 1458, Blatt 2), die Fürsten von
Monaco mit ihrem
Sohn
Rainier als Kleinkind, der englische Premierminister
David Lloyd George (vgl. den ausführlichen Bericht über den Aufenthalt in
Zermatt sowie auf der
Riffelalp und zum Empfang durch Joseph und Hermann Seiler in der
Neuen Zürcher Zeitung
vom 6. September 1920, Nr. 1457, S. 3 sowie gleichen Datums, Nr. 1459, S. 2 und vom
7. September 1920, Nr. 1463, S. 3), der italienische Ministerpräsident
Giovanni Giolitti und der englische Aussenminister Joseph
Austen Chamberlain (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 19. Juni 1927, Nr.
1028, S. 2),
Kennedys, Morgans, Rockefellers und
Vanderbilts, Michelins und Pirellis (detailliert zur Klientel jener
Epoche:
Emeline Zschokke-Seiler: Vierzig Jahre Ryffelalp,
Basel 1974); nicht unüblich waren
Besuche von grösseren prominenten Personengruppen wie jener der Teilnehmer
der Friedenskonferenz von Lausanne (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 23. Juli
1923, Nr. 1005, S. 1; London Times vom 21. Juli 1923, Nr. 43, 399, S. 10). Hinsichtlich des
gesellschaftlichen Rufs, welchen die Klientel widerspiegelte, dürfte
die
Zermatter Hotelgesellschaft damals ihren Höhepunkt
erreicht haben. Signifikanter Ausdruck der Reputation im
Wirtschaftszweig in der Schweiz wie im Ausland war in der
zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Wahl des Generaldirektors Hermann Seiler zum
Zentralpräsidenten des Schweizer Branchenverbandes und zum Präsidenten
des Spitzenverbandes der 18 nationalen Landesorganisationen (vgl. oben E. 1.).
Die
von Eduard Seiler, dem ältesten Sohn Hermanns, um 1950 in Küsnacht am
Zürichsee geschaffene Ermitage genügte ebenso bis zum Verkauf durch die
Familie Seiler in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hohen Standards:
König Baudouin von Belgien, die Prinzen von Jordanien und Laos, die
Scheichs von Bahrein, Schweizer Bundesräte, Max Frisch und Christina
von Opel etwa speisten und übernachteten hier (vgl. z.B. Neue Zürcher Zeitung vom 20. Juni 1961, Nr. 2319, Blatt
1; Zürichsee-Zeitung vom 16. August 1974, Nr. 188, S. 15 und vom 16.
September 2005, Nr. 216, S. 5). Die Wertschätzung in der Branche fand ihren Niederschlag in der Wahl des
promovierten Staatswissenschaftlers und Verbandspolitikers Eduard Seiler zum Vizepräsidenten
der Schweizer Sektion der angesehenen internationalen Relais & Château-Gruppe.
Richtig
ist, dass Hermann Seiler bei der Wahrnehmung
seiner Verantwortlichkeiten unternehmensstrategischen,
politischen, verbandspolitischen, organisatorischen und administrativen
Problemstellungen das Hauptgewicht zumass (vgl. oben E. 1.),
nicht der extensiven emotiven Mitgestaltung
des Hotel- und Ferienalltags einzelner Gäste oder Gästegruppen und
deren psychologischer Begleitung und Betreuung während des Aufenthalts in einem der neun bzw. zehn Hotels in Zermatt oder Gletsch, die in den 1920er Jahren insgesamt rund 1400 Gastbetten umfassten.
‚Faire
les honneurs‘ durfte sich nach dem Stilempfinden und -verständnis wie
auch nach Massgabe der prioritären Aufgabenlast des Unternehmens- und
Verbandsführers und ehemaligen Staatsmannes auf
einige treffende Sätze beschränken und gemeinsame Nachtessen (oder
Barbesuche) eher nicht einschliessen.
Die
Rolle des Hoteliers als eines Vermittlers identitätsstärkender sozialer
Kontakte unter den Gästen, die Benutzung eines Hotels als Möglichkeit für
den Betriebsverantwortlichen, sich selbst zeitlich und emotionell
umfänglich als Causeur, Charmeur, Conférencier sowie Spezialzusatzunterhaltungen ad personam oder ad personas bietender und veranlassender Maître de plaisir in die Hotelaufenthalte der Klientel einzubringen - zumal in den 1920er und 1930er Jahren eine
stilistisch
in verschiedenen (bildungsbürgerlichen, aber auch weniger kultivierten
bis hin zu illiteraten)
Nuancierungen nicht unübliche Ausprägung der Hoteliers- und
Restaurateursprofession -, war ihm (mehr als anderen
Familienmitgliedern) fremd
und galt ihm als nicht durchwegs dezent, woraus er nicht immer ein
Hehl zu machen pflegte - mitunter der einen oder anderen eher
ungestüm-emotiv als analytisch-intellektuell veranlagten Person
gegenüber in Wahrnehmung seiner Verantwortlichkeit auch für die Unité de style eines in Zermatt mehr als 600 Mitarbeitende umfassenden Hotelunternehmens von Weltruf auf eine Art, die vielleicht als schroff
disziplinierend erlebt werden konnte.
* * *
Lunch im Hotel Riffelalp um 1940. Hermann Seiler am Tisch 2. v. links. Stehend zwei Kellnerinnen und zwei Kellner im Frack mit weissem Papillon. Chakteristisch für dieses Haus auf 2200 Meter Höhe das eher zurückhaltend sportliche, aber dennoch sehr gepflegte Interieur. [ Zur Verhaltenskultur im Hotel Riffelalp unter der Generaldirektion Hermann Seilers in der Wahrnehmung Stefan Zweigs]
* * *
Wie
Franz Seiler im Nachruf vom 29. August 1964 auf seinen Onkel und
Vorgänger hervorhob, „verlangte [diese]r Selbstbeherrschung und
Pflichtbewusstsein, zwei Eigenschaften, die er selber beispielhaft
verkörperte.“
Dem
Wesen nach verwandt war ihm die emotionelle Autarkie und das sportliche
Understatement grosser englischer Bergsteiger und politischer
Verantwortungsträger unter seinen Gästen.
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* * *
F. Konfessionelles
1. Weshalb gibt es in Gletsch zwei Kapellen?
In
Gletsch gibt es eine katholische und eine anglikanische Kapelle, weil
Katholiken und Anglikaner bis nach dem Ersten Weltkrieg die grösste
Mitarbeitenden- bzw. Gästegruppe bildeten. Im Jahre 1932 ging die ursprünglich
anglikanische Kapelle nordöstlich des Haupthauses durch Kauf an die
Hotelgesellschaft und diente fortan dem katholischen Kult (vgl. Nouvelliste Valaisan vom 27. Juli 1932, Nr. 173, S. 3). Die im
Norden felsseitig an das Haupthaus angebaute katholische Kapelle war
seit je wegen der schwierigen Geländeverhältnisse ziemlich
klein, eng, feucht und dunkel, weshalb sie bis zum Verkauf
der Immobilien Gletsch AG ein halbes Jahrhundert später nicht mehr für den Kult genutzt wurde.
Der Raum diente als Möbelmagazin.
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2. Weshalb baute der Katholik Joseph Seiler für seine englischen Gäste eine anglikanische Kapelle?
Mit
der katholischen Konfessionszugehörigkeit hat der Bau der Kapelle
nichts zu tun - weder positiv noch negativ. In der Belle Epoque gab es
in der Schweiz an mehr als 60 Orten - protestantischen wie katholischen
-
anglikanische Kapellen. Diese wurden auf Veranlassung der Society for
the Propagation of the Gospel in Foreign Parts oder -
wie jene in Gletsch - der Colonial and Continental Church Society oder auch anderer unabhängiger Organisationen gebaut und standen in
deren Eigentum (vgl. die Liste in: John Wraight: The Swiss and the British, London 1987, S. 284). Ein Grossteil, zeitweise die
Mehrheit der Touristen stammte aus England.
Einen
ständigen anglikanischen Geistlichen gab es in Gletsch allerdings
bereits Jahrzehnte vor dem Bau der Kapelle, spätestens Ende der 1870er
Jahre: vgl. London Times vom 3. September 1879, No. 29, 663, S. 5.
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* * *
G. Politisches
Gibt
es einen privaten Brieftext, der die
politische Position innerhalb der Familie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs prägnant widerspiegelt?
Am
10. Dezember 1939 schrieb Eduard Seiler, der
älteste Sohn Hermann
Seilers (nachdem der Bruder Andreas im
Juli des gleichen Jahres in einem Unfall zu Tode gekommen war), an
seinen damals in Brasilien lebenden Vetter Theodore E. (vgl. oben E. 2.), später als Nachfolger
Franz Seilers 1966-1981 Präsident der Seiler Hotels Zermatt AG,
folgende
Zeilen:
„Inzwischen ist unser armes Europa von dem Unwetter überfallen worden,
das sich schon so lange mit schwarzen Wolken am Horizont angekündigt
hatte. Insofern war es ja keine Überraschung. Und doch übertrifft die
Gemeinheit, mit welcher dieser Krieg vom Zaun gerissen wurde und mit
der jetzt wieder das arme Finnland bedrängt wird, alle trüben
Vorahnungen. Für das Schweizervolk, das ja mit dem nordischen neutralen
Land so viel Verwandtes hat, sind die vergangenen Monate eine Zeit
erhebender nationaler Besinnung geworden. Bei uns ist jeder bis zum
Letzten bereit, die notwendigen Opfer fürs Vaterland willig zu tragen.
Du kannst Dir denken, wie sehr beispielsweise unsere Hotellerie unter
den Verhältnissen leidet. Von einer Eröffnung Zermatts in diesem Winter
kann keine Rede sein. Aber was bedeutet materielle Entsagung in einem
Moment, da so Hohes wie die Freiheit ganzer Völker auf dem Spiele
steht. [...] Ich selber bin leider infolge meiner Krankheit im
vergangenen Frühling noch nicht diensttauglich. Doch suche ich
jetzt eifrig einen Posten (Geistige Landesverteidigung, Rotes Kreuz),
wo ich mich nützlich machen kann.“
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